Morland 02 - Die Blume des Bösen
vertraut gemacht – vor allem damit, was es bedeutet, seine Gabe um jeden Preis verstecken zu müssen. Ich wusste schon als Kind, was es heißt, in ständiger Angst zu leben, als Gist entlarvt und verfolgt zu werden. Es ist ein entwürdigendes Leben.« Ein verbitterter Zug erschien um ihren Mund.
»Ich glaube kaum, dass Sie die Menschen für Ihr Leben und Ihre Sucht verantwortlich machen können!«, sagte Tess scharf.
»Doch, das kann ich«, sagte Helga ungerührt. »Weißt du, was es heißt, gegen die eigene Natur leben zu müssen, nur um nicht aufzufallen? Sich ständig zu verstellen? Wir sind besser als die Menschen! Wir haben etwas anderes verdient! Und wenn die Eskatay den Entschluss fassen sollten, Menschen als Rekrutierungsmasse für ihre eigenen Zwecke zu nutzen, ist mir das ziemlich egal. Die, die es überleben, werden ihnen vielleicht sogar dankbar sein.«
Tess war erschüttert über so viel Gleichgültigkeit. »Wie viele gibt es, die so wie Sie denken?«
»Die meisten, würde ich sagen. Natürlich gab es immer einige unter uns, die die Nähe der Menschen gesucht haben. Das verstellt allerdings ein wenig den Blick auf das, was wirklich wichtig für uns Gist ist.«
»Und was sollte das sein?«, fragte Tess.
»Selbstbestimmung, Schätzchen.« Sie zog an ihrer Zigarette, trank einen Schluck aus ihrem Glas und machte ansonsten ein Gesicht, als hätte sie keine Lust mehr, sich weiter mit Tess über Dinge zu unterhalten, die sie ihrer Meinung nach ohnehin nicht verstand.
Tess stand wütend auf. Sie hatte gesehen, wie diese Helga Varnrode in der realen Welt dahinvegetierte, und fragte sich, woher die Frau ihre Arroganz nahm. Tess stand einen Moment unentschlossen herum und folgte dann den Wegweisern zur Bibliothek. Sie hoffte, dort einen stillen Winkel zu finden, wo ihre Wut langsam verrauchen konnte. Unterwegs holte sie sich an der Bar noch einen Mint Julep ab.
Die Bibliothek war ein riesiges Kaminzimmer, in dessen Regalen, die bis unter die hohe Decke reichten, Tausende von Büchern aller Größen und Gattungen standen. Eine umlaufende Galerie, die eine Vielzahl kleinerer Bücher beherbergte, konnte über eine gusseiserne, arabesk verzierte Wendeltreppe erreicht werden. Der Kamin, in dem trotz der angenehmen Temperaturen ein Feuer prasselte, war wuchtig und hatte einen Sims, der so hoch angebracht war, dass Tess beinahe aufrecht in der Feuerstelle stehen konnte, ohne sich den Kopf zu stoßen. Obwohl alles einige Nummern zu groß aussah, strahlte dieser Ort eine Heimeligkeit aus, die Tess berührte. Ohne genau hinzuschauen, nahm sie sich ein Buch und ging damit zu einem großen, langen Tisch, an dem man die schweren Folianten lesen konnte.
Es war das gebundene Manuskript eines Mannes, der vor achthundert Jahren in der Grusina gelebt hatte, jenem verkarsteten Land am östlichen Rand des Ladinischen Meeres, das in jenen Jahren berühmt für seine hohe Schriftkultur war. Der Autor hieß Drakho Messip und es war ein reich bebilderter Reisebericht über eine Expedition in den Osten des Kontinents, die er zusammen mit zwei Freunden unternommen hatte. Es musste eine zumindest für Messip verwirrendeReise gewesen sein. Tagsüber ritt er durch endlose Steppen, um dann in der Nacht, wenn er schlief, in dieser Bibliothek seine Erlebnisse niederzuschreiben.
Tess musste sich immer wieder die Tatsache bewusst machen, dass dieses Buch gar nicht oder zumindest nicht physisch existierte. Aber was ließ diesen Ort so wirklich erscheinen und wie konnten alle, die hier waren, dasselbe sehen, erleben oder träumen wie sie selbst? Tess klappte das Buch zu und stellte es vorsichtig wieder zurück. Die Einrichtung der einzelnen Zimmer, Räume und Säle war ein Zugeständnis an den Geschmack der heutigen Zeit. Wie also hatte das erste Grand Hotel ausgesehen?
Tess seufzte. Das war eine Frage, die wahrscheinlich niemand beantworten konnte. Die ersten Gist waren schon seit Tausenden von Jahren tot. Vielleicht stimmte es ja, was Tess vermutete. Dass das Grand Hotel ein Ort war, der durch die Geisteskraft aller Gist am Leben erhalten wurde. Aber irgendwie beschlich sie das Gefühl, dass die Wahrheit anders aussah und vielleicht sogar noch viel erstaunlicher war.
Sie trank ihr Glas aus und wollte sich gerade ein neues Buch holen, als aus der Lobby ungewohnte Geräusche kamen. Ein heftiger Streit war im Gange. Halb belustigt fragte sich Tess, wie an diesem Ort, dessen einziger Makel eine fast schon betäubende Harmonie unter den
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