Morland 02 - Die Blume des Bösen
mehr, wo seine eigene Persönlichkeit aufhörte und die der anderen begann. Hakon musste seine ganz Konzentration aufbieten, damit er in diesem Kampf, der sich unentwegt in seinem Kopf abspielte, die Oberhand behielt.
So gesehen war er dankbar für das quälende Seitenstechen. Es mochte zwar schmerzhaft sein, aber es lenkte ihn von den Szenen ab, die immer wieder vor seinem inneren Auge erschienen und sich aus fremden Bildern zusammensetzten,die seiner eigenen Gedankenwelt beängstigend fremd waren. Es waren Momentaufnahmen, keine zusammenhängenden Handlungsabfolgen, die in rasendem Tempo wechselten und manchmal so intim waren, dass sich Hakon schämte, ihr Zeuge zu sein. Hakon erfüllte der schier unkontrollierbare Jähzorn des Vilgrunder Bauern, dem er während einer Zirkusvorstellung auf den Kopf zu gesagt hatte, dass er seinen Nachbarn bei dem Verkauf einer kranken Kuh betrogen hatte. Er spürte Hagen Lennarts beinahe krankhaften Kontrollzwang, aber auch die grenzenlose Liebe zu seinen beiden Töchtern, die von den Eskatay entführt worden waren. Er durchlebte Silvetta Lennarts Angst um ihren Mann und ihre Kinder. Doch am schlimmsten waren die Erinnerungen Swanns, der ihn und die anderen Gist gnadenlos gejagt und fast zur Strecke gebracht hatte, ehe Lennart ihn erschossen hatte. Hakon verspürte Swanns sadistische Freude, wenn dieser mit eigenen Händen einen Verdächtigen foltern konnte oder wenn er wehrlose Menschen, Männer, Frauen und sogar Kinder ermordete. Dies alles waren Gefühle, die eine gefährliche Wirkung auf Hakon hatten. Hakon mochte zwar äußerlich ein Fünfzehnjähriger sein, aber seit seine magische Begabung in ihm erwacht war, vereinigte er das Leben mehrerer erwachsener Menschen in sich.
Hakon konnte sich vorstellen, dass mit Swanns gewaltsamem Ende, das Hagen Lennart im Zug nach Morvangar herbeigeführt hatte, auch das eine oder andere Mitglied des Kollektivs aufatmete, denn der glatzköpfige Mann mit dem Charakter eines giftigen Skorpions hatte dieselbe telepathischeGabe wie Hakon gehabt, nur war sie bei Swann noch wesentlich stärker ausgeprägt gewesen. Der mächtige Eskatay hatte nicht nur Gedanken lesen, sondern auch jeden Menschen in seiner Nähe kontrollieren und manipulieren können, ohne dass er selbst kontrolliert werden konnte. Hakon hatte mehrfach versucht, in Swanns Gedanken einzudringen, war jedoch bis auf ein einziges Mal stets mit Leichtigkeit von Swann abgeblockt worden.
Seine Verbindung zu Swann war nur kurz gewesen, was Hakon einerseits bedauerte, denn die Informationen, die er hatte anzapfen können, waren nur bruchstückhaft gewesen und hatten kein sinnvolles Gesamtbild ergeben. Auf der anderen Seite wusste Hakon jedoch, dass ein voller Kontakt mit Swanns krankem Verstand nur auf Kosten seiner eigenen geistigen Gesundheit gegangen wäre. Zu schrecklich waren die wenigen Szenen, die er zu sehen bekommen hatte und die ihn immer noch verfolgten.
Dies jedoch waren Gedanken, die Hakon in die entfernteste Ecke seines Kopfes verbannen musste. Flach atmend, um das Seitenstechen so erträglich wie möglich zu machen, stolperte er hinter den anderen durch einen Wald, der streckenweise so dicht war, dass sie weite Umwege gehen mussten. Hakon musste seine Gabe nicht einsetzen, um zu wissen, dass die anderen mit ihren eigenen düsteren Gedanken beschäftigt waren, die alle mit Verlust und Schuld zu tun hatten. Es bereitete ihm noch immer Schwierigkeiten, die telepathische Begabung im Zaum zu halten und sie dosiert einzusetzen, aber immerhin beherrschte er sie inzwischen so weit, dass er sie komplett ausschalten konnte.
Verstohlen warf er einen Seitenblick auf York, der stumm neben ihm herlief. Im Gegensatz zu Hakon, der schon von Kindesbeinen an hart gearbeitet hatte, war York wohlbehütet in einem reichen Haus aufgewachsen. Er war nicht so kräftig wie Hakon, dafür aber größer und drahtiger. Yorks dunkle Haare betonten die Blässe seiner Haut, die ahnen ließ, wie erschöpft er war.
Auch York war – genau wie Hakon und Tess – von einem Augenblick auf den anderen aus seinem normalen Leben gerissen worden. Sein Vater war der oberste Richter Morlands gewesen. York war von einem Versteck aus Zeuge geworden, wie die Eskatay seinen Vater ermordet hatten. Nachdem die Verschwörer entdeckt hatten, dass York ein Gist war, musste er fliehen. Durch Papiere, die Richter Urban für York hinterlegt hatte, hatte der Junge nach dessen Tod erfahren, dass er nach seiner Geburt vom
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