Morland 02 - Die Blume des Bösen
wenn man Mitglied einer größeren Familie war.
»Ich war das älteste von neun Kindern«, sagte Halldor, als sie wieder in der Tischlerei an einer neuen Bank arbeiteten. »Mein Vater war Invalide. Er hatte seine rechte Hand bei einem Unfall mit der Kreissäge verloren. Er war Tischler und von ihm habe ich alles gelernt, was ich Ovidiu beigebracht habe, was er wiederum dir beibringen wird. Mein Vater war eine ehrliche Haut. Hat nie einen Tropfen angerührt, nie seine Frau geschlagen. Er war in Ordnung, sprach zwar nicht viel, war aber immer für uns da, wenn wir ihn brauchten. Er war ein stolzer Mann, der mit seiner Hand auch seine Ehre verlor, denn nach dem Unfall musste meine Mutter für den Lebensunterhalt der Familie sorgen.« Halldor machte ein Gesicht, als müsste er sich selbst heute noch für seinen Vater entschuldigen.
»Er kam sich absolut nutzlos vor. Mein Vater versuchte zwar, die Erziehung der Kinder zu übernehmen, aber das ging natürlich gründlich schief. Ihm fehlte, wie soll ich es sagen, das Fürsorgliche meiner Mutter. Er war der Überzeugung, dass man für seine Taten einzustehen hat, und erzog uns hart. Aber eigentlich war er ein unglücklicher Mensch. Zwei Monate nach seinem Unfall warf er sich vor einen Zug. Hast du eine Familie?«
Lennart zögerte einen Moment, dann nickte er. »Ich habe zwei Töchter, Zwillinge.«
Halldor grinste. »Zwei Mädchen? Mann, da hast du aber ganz schön Unruhe im Haus! Sind sie schon so alt, dass sie mit Jungs ausgehen?«
»Dazu sind sie noch zu klein.«
»Aber ihnen geht es gut, nicht wahr? Sie sind bei deiner Frau und warten darauf, dass du wieder von deiner langen Reise zurückkehrst.«
»Meine Frau ist tot«, sagte Lennart und blies die Späne von dem Werkstück, das er gerade mit seinem Hobel bearbeitete.
»Oh, verdammt. Ein Unfall?«
»Nein, sie ist ermordet worden.«
Halldor zuckte zusammen. Ehrliche Bestürzung zeigte sich auf seinem Gesicht.
»Und die Kinder?«
»Vom Mörder ihrer Mutter entführt.«
Halldor schwieg einen langen Moment, während Lennart die Bank weiter abhobelte. »Du weißt, dass wir uns darum kümmern könnten«, sagte der Capo schließlich.
»Ihr würdet keinen Erfolg haben.« Er legte den Hobel beiseite und griff nach einem Handfeger.
» Ihr ?«, fragt Halldor mit ironisch drohendem Unterton in der Stimme. Nur, dass die Ironie gespielt war.
»Entschuldige. Wir würden keinen Erfolg haben«, verbesserte sich Lennart und fegte den Holzstaub fort, um die Genauigkeit seiner Arbeit besser beurteilen zu können. »Ich weiß nicht, an welchen Ort man sie gebracht hat. Und auchwenn ich das in Erfahrung bringen könnte, würde es mir nicht viel nützen.«
»Es wäre eine Sache von vierundzwanzig Stunden, und wir hätten die Entführer gefunden. Will man ein Lösegeld erpressen?«
Lennart lachte humorlos. »Nein. Genau genommen haben meine Töchter für die Entführer keinerlei Wert. Außerdem weiß ich, wer sie verschleppt hat. Glaub mir, die Boxvereine haben nichts damit zu tun.«
»Gut«, sagte Halldor. »Vielleicht willst du uns ja eines Tages mehr über diese Sache erzählen. Aber wenn deine Kinder noch leben, zählt jede Stunde, das weißt du.«
Lennart nickte erneut und presste die Lippen aufeinander. Er griff nach dem Schleifpapier, doch seine Hände zitterten so sehr, dass es ihm aus den Fingern glitt und zu Boden fiel. Lennart wollte sich gerade bücken, um es aufzuheben, als sich Halldors Hand um sein Gelenk schloss.
»Deine Wut frisst dich von innen heraus auf«, sagte er. »Bald hat sie deine Seele verschlungen. Das darfst du nicht zulassen. Du musst versuchen, deinen Dämonen die Stirn zu bieten, sonst wirst du sterben.«
Lennart brachte kein Wort heraus. Er fühlte sich, als stünde er am Rande eines Abgrundes. Nur ein Schritt und er würde fallen.
»Es gibt einen Weg, wie du mit diesem Hass fertig werden kannst. Ich werde ihn dir zeigen. Komm mit.« Halldor legte einen Arm um Lennarts Schulter und stützte ihn. »Ich glaube, es wird dir sogar Spaß machen.«
»Boxen ...«, sagte Halldor, »... Boxen ist nur auf den ersten Blick ein Faustkampf, bei dem der Stärkere gewinnt. Eigentlich geht es dabei um etwas ganz anderes.« Mit einem Ruck knotete er die Lederhandschuhe zu, die er Lennart angezogen hatte. »Es geht darum, sich nicht von seinen negativen Gefühlen beeinträchtigen zu lassen. Und natürlich möglichst selbst keinen Treffer einzustecken.« Er hielt die Seile des Rings auseinander, damit
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