Morland 02 - Die Blume des Bösen
worden war. Noch unterschied er sich äußerlich kaum von den anderen, aber er würde sich einen Backenbart stehen lassen müssen.
Das Essen, das die Wargebrüder bekamen, war etwas anderes als der kalte Haferbrei, den die anderen Häftlinge auf ihren Tellern hatten. Das Brot war frisch, der Tee gesüßt. Selbst der Käse war ohne Schimmel. Es gab sogar einen Apfel für jeden. Halldor lächelte seinen Sitznachbarn an, als der verblüfft und beinahe ein wenig fassungslos auf seinen vollen Teller starrte, und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.
Lennart schaute über die Schulter und suchte nach Pavo, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Versonnen konzentrierte er sich wieder aufs Essen.
Nach der Mahlzeit erfolgte der Einschluss. Jeder Gefangene wurde in seine Zelle eingesperrt, die er bis zum Anbruch des kommenden Tages nicht mehr verlassen würde. Noch bevor das Gitter hinter ihm ins Schloss fiel, bemerkte Lennart, dass jemand in seiner Abwesenheit die Zelle verändert hatte. Man hatte die kratzige Decke gegen eine weichere ausgetauscht und ihm zusätzlich ein Kopfkissen hingelegt. Neben dem Kopfkissen stapelte sich frische Wäsche, darunter auch einige Unterhosen und Unterhemden. Lennart ließ sich schwer auf die Pritsche fallen und stutzte. Vorsichtig hob er die Decke an und fand ein Buch: Der Untergang der Morgenröte von Julius Marget. Er riss das Streifband ab, wie es
jedes neue Buch hatte, und schlug es auf. Es war unglaublich! Dieser Schinken von sechshundert Seiten war erst vor zwei Monaten erschienen, und jeder las ihn. Die Geschichte über die erste Polarexpedition war das Stadtgespräch, bevor alles vor die Hunde gegangen war. Heute hatten die Leute andere Probleme, dachte Lennart und legte das Buch zurück auf die Pritsche. Die Sonne ging erst spät unter. Mit ein wenig Glück konnte er noch ein oder zwei Stunden lesen. Lennart fühlte sich intellektuell komplett ausgedörrt, und die Gesellschaft hier im Knast war nicht gerade dazu angetan, zu geistigen Höhenflügen anzusetzen. So gesehen war er froh, wenigsten Pavo zu kennen.
Die nächste Überraschung war die neue Zahnbürste und das Zahnpulver, das jemand neben den Wassereimer gestellt hatte. Lennart wusch sich und probierte sein neues Geschenk aus. Als er den Mund ausgespült hatte, atmete er tief durch. Er hatte Sport getrieben, hatte geduscht, ein gutes Abendessen gehabt und sich nun die Zähne geputzt. Es war erstaunlich, welch geringer Mittel es bedurfte, um sich wieder wie ein Mensch zu fühlen.
Lennart legte sich auf die Pritsche, stopfte sich das Kissen unter den Kopf und begann zu lesen. Er schaffte eine halbe Seite, dann war er eingeschlafen.
Als ihn jemand am Arm berührte, schreckte er hoch. Die Sonne war schon untergegangen, und der Stille nach zu urteilen, die im Zellentrakt herrschte, musste es weit nach Mitternacht sein.
»Scht«, machte jemand. »Ich bin es. Halldor.«
Sofort war Lennart hellwach. »Was ist geschehen?«
»Schestakow will dich sehen«, flüsterte Halldor.
»Und die Wachen?«, fragte Lennart verwirrt.
»Die sitzen in ihrer Stube und spielen Karten.«
Lennart schwang die Beine von der Pritsche und suchte mit den Füßen den Boden ab.
»Keine Holzpantinen«, flüsterte Halldor. »Die machen zu viel Lärm. Er packte Lennart beim Arm und zog ihn hoch. Gemeinsam verließen sie die Zelle, wobei sich der Capo mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit durch die Dunkelheit bewegte. Er musste diese Wege schon oft in der Finsternis gegangen sein.
Zuerst wusste Lennart nicht, wohin Halldor ihn lotste, doch als sie vor einer großen Schwingtür standen, begriff er, wo sie waren. Es war der Trainingsraum.
Halldor hielt die Tür auf und ließ Lennart den Vortritt. Als er den Raum betrat, spürte er, wie ihm schlagartig kalt wurde.
Begleitet von ihrem Gefolge sah er Einar Gornyak von den Todskollen und Jefim Schestakow von den Wargebrüdern. Alle Plätze waren besetzt – mit Ausnahme eines Stuhles, der genau unter einer Gaslampe stand.
Schestakow beugte sich zu Gornyak hinüber.
»Einar?«, fragte er höflich.
»Ich lasse dir den Vortritt«, schnarrte der Großmeister der Todskollen. »Du hast hier heute das Hausrecht.«
Schestakow lächelte, als hätte ihm sein bester Freund ein höchst schmeichelhaftes Kompliment gemacht, dann stand er auf.
»Setz dich, Hagen Lennart.«
Lennarts Mund wurde schlagartig trocken. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf, doch sie alle wisperten nur: Du bist am
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