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Morland 02 - Die Blume des Bösen

Titel: Morland 02 - Die Blume des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Schwindt
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seine Gefährlichkeit hinwegtäuschte. Alles an ihm war rund, ohne dabei plump zu wirken. Der Großmeister der Wargebrüder hatte etwas Gemütliches an sich, eine Gelassenheit, die jedem signalisierte: Schaut her, ich bin nicht gefährlich. Wir können über alles reden und wenn du mir vertraust, soll es dein Schaden nicht sein. Seine Augen blitzten vor verschlagener Intelligenz und Lennart konnte in ihnen auch jenen Schuss Wahnsinn erkennen, der jedes Genie auszeichnete. Denn ein Genie war Schestakow zweifellos. Wer sich über zwanzig Jahre lang an der Spitze eines Boxvereins behaupten konnte, der war genauso gerissen wie gefährlich.
    »Ich habe gehört, dass du ein besonderer Mann bist, Aram. Einer, der sich nicht so schnell einschüchtern und nichts auf seine Ehre kommen lässt. Das ist gut. So jemanden wie dich können wir sehr gut brauchen.«
    Lennart deutete eine Verbeugung an. »Dann ist es eine Ehre für mich, in die Bruderschaft der Warge aufgenommen zu werden.«
    »Knie nieder«, sagte Schestakow. Die anderen Wargebrü‑
    derbildeten einen Halbkreis, der zur Hofseite hin offen war, sodass jeder Zeuge dieser Zeremonie werden konnte. Tatsächlich kehrte eine Stille ein, die selbst die Todskollen respektierten.
    Schestakow ließ sich eine Ahle geben und ergriff Lennarts linkes Ohrläppchen. Mit einer schnellen Bewegung stach er ein Loch hinein, in dem er den Silberstecker in Form eines Wolfskopfes befestigte. Doch außer dem kurzen, scharfen Schmerz spürte Lennart nichts. Keine Angst. Keine Erregung.
    »Du blutest nicht«, sagte Schestakow. »Das ist ein gutes Zeichen. Steh auf.«
    Lennart stellte sich wieder hin. Er spürte die Blicke der Mitgefangenen, die sich in seinen Rücken bohrten.
    »Du bist jetzt ein Novize. Halldor wird dein Bürge sein, der dir alles vermittelt, was du wissen musst, um ein vollwertiges Mitglied unserer Bruderschaft zu werden. Wenn du dich bewährst, wirst du in einem Ritual dein Noviziat beenden und zu einem echten Wargebruder werden. Zwei Regeln werden von jetzt an dein Leben bestimmen: Sei gehorsam und sei schweigsam. Niemand wird dir den Umgang mit Nichtbrüdern verbieten. Im Gegenteil, wir fördern dies sogar. Und wenn du am Ende einen neuen Mitbruder gewonnen hast, umso besser für dich. Doch gerade am Anfang ist es wichtig, dass du dich deiner neuen Aufgabe mit ganzem Herzen widmest.«
    Die Arbeitssirene ertönte und die beinahe andächtige Stille verflüchtigte sich augenblicklich, als wären die Gefangenen aus einer unheilvollen Trance erwacht. Schestakownickte wohlwollend und Halldor legte eine Hand auf Lennarts Schulter.
    »Wir müssen zurück zur Arbeit.«
    Gemeinsam gingen sie über den Hof zum Flügel, in dem sich die Tischlerei befand. Lennart fasste an sein Ohr und berührte dabei den silbernen Wolf, als er Pavo sah, der noch immer an seinem Tisch saß und nun sorgenvoll zu Lennart hinüberschaute. Lennart wich seinem Blick aus. Stattdessen schloss er zu Halldor auf ohne sich noch einmal umzudrehen.
    Der Capo der Tischlerei verhielt sich Lennart gegenüber tatsächlich wie ein großer Bruder, was den ehemaligen Chefinspektor des Dezernats für Kapitalverbrechen ziemlich irritierte. Lennart war kein Mensch, der sich gerne gängeln ließ. Schon gar nicht von einem Mann, dem er unter normalen Umständen aus dem Weg gegangen wäre. Halldor Schartess stammte aus der Unterschicht. Lennart brauchte ihn nicht zu fragen, wo er geboren und aufgewachsen war. An seiner Stimme erkannte man das Ostend der Stadt, in dem die Fabrikarbeiter und Tagelöhner hausten und das schon immer fest in der Hand der Boxvereine war. Wer hier aufwuchs, hatte keine andere Chance, als sich entweder für die Todskollen oder die Wargebrüder zu entscheiden. Und meistens wurde diese Entscheidung von anderen getroffen: vom Vater, vom Onkel, vom Bruder oder vom Cousin. Meist war man schon in der zweiten oder dritten Generation Mitglied eines Boxvereins, wobei die Mitgliedschaft nicht nur akzeptiert, sondern geradezu erwünscht war. Die meisten Familien hatten bis zu zehn oder zwölf Kinder. Keine Mutter und kein Vater hatten die Zeit und die Geduld, jedem einzelnen dieAufmerksamkeit zukommen zu lassen, die es erforderte, um aus Kindern, die die meiste Zeit auf der Straße verbrachten, verantwortungsvolle Menschen zu machen, die selbstständig und verantwortungsvoll das eigene Leben in die Hand nahmen, um sich und die Familie sozusagen am eigenen Schopfe aus dem Elend zu ziehen. Das funktionierte nur,

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