Morland 03 - Das Vermächtnis der Magier
sein. Nun bemerkte Tess auch die frischen Profilabdrücke von breiten Reifen auf dem Weg. Der Tiefe und Spurweite nach zu urteilen musste es sich um einen Lastwagen handeln, aber sie war keine Expertin, was Automobile anging. Hakon kannte sich da wahrscheinlich besser aus. Tess hatte den Jungen mit der telepathischen Gabe immer bewundert, obwohl sie ihm das nie gesagt hatte. Er war vierzehn Jahre alt, hatte aber durch seine Gabe mehrere Leben in sich vereinigt, sodass er viel erwachsener dachte, handelte und sprach, als es seinem Alter zukam.
Tess’ anderer Freund York war das Gegenteil von Hakon. Er war in behüteten Verhältnissen aufgewachsen (eine Formulierung, über die York selbst vermutlich gelacht hätte) und strahlte noch immer die Sorglosigkeit eines Jungen aus, der in seinem Leben nie Armut kennengelernt hatte. Aber auch an York waren die Ereignisse der letzten Wochen nicht spurlos vorübergegangen. Er hatte mit ansehen müssen, wie Innenminister Norwin aus Erik Urban, Yorks Adoptivvater, einen Eskatay hatte machen wollen. Der Oberste Richter Morlands hatte die Infektion nicht überlebt. Norwin hatte im Auftrag von Präsident Begarell gehandelt, der mit allen Mitteln eine dritte Amtszeit anstrebte. Nur Richter Urban hatte ihm dabei noch im Weg gestanden und deshalb sterben müssen.
Die Erinnerung an ihre Gefährten gab Tess einen Stich ins Herz. Sie musste unbedingt einen Weg zurückfinden, denn Nora und ihre Freunde waren alles, was ihr geblieben war. Also schloss sie mit schnellen Schritten zu Porter auf, der noch immer auf sie wartete.
Zu ihren Füßen, etwas abseits des Weges, lag ein Bauernhof. Das zweistöckige Haupthaus war weiß gestrichen und hatte eine umlaufende überdachte Terrasse. Etwas nach hinten versetzt standen noch andere Gebäude, vermutlich waren es die Stallungen und eine Scheune. Der Besitzer hatte einen Garten angelegt. In einem umzäunten Geviert konnte Tess Bohnenstangen erkennen, Kohlköpfe und andere Gewächse, die teils rosafarbene oder violette Blüten, teils schon Früchte trugen.
»Da hast du ja ein schönes Zuhause«, murmelte Tess und strich Porter über den Kopf. Der Hund gab ein leises Winseln von sich und lief dann den Hügel hinab. Tess folgte ihm. Als sie die Einfahrt erreichten, konnte sie auf einem hölzernen Torbogen den Namen erkennen, den der Besitzer seiner Farm gegeben hatte.
»Tiqqun Olam«, las Tess und runzelte die Stirn. Sie konnte zwar wie auf Porters Hundemarke die Buchstaben lesen, doch der Sinn dieser Worte wollte sich ihr nicht erschließen. Tiqqun Olam schien jedenfalls ein friedlicher Ort zu sein. Hühner scharrten gackernd nach Futter, Kühe muhten in einem Stall und irgendwo, vermutlich hinter dem Haus, meckerten einige Ziegen.
Porter trottete zu seiner Hundehütte, die am Fuß der Verandatreppe stand, trank etwas Wasser aus einem Blechnapf und legte sich dann müde in den Schatten. Tess schaute sich genauer um. Alles war sauber und aufgeräumt. Auf der Terrasse standen Kübel mit üppig blühenden Blumen. Ein Windspiel klingelte verträumt in der warmen Brise. Tess stieg die Verandatreppe hinauf und klopfte an den Rahmen der weit offen stehende Tür. Sie blickte in eine große, helle Küche, die von einem ausladenden Tisch beherrscht wurde, an dem allerdings nur ein Stuhl stand. Es roch verlockend nach frisch gebackenem Brot.
»Hallo? Ist jemand da?«, rief Tess ein wenig ängstlich.
Niemand antwortete. Sie überlegte kurz, ob sie das Haus betreten sollte, entschied sich dann aber anders und ging die Veranda wieder hinunter. Erst jetzt hörte sie leise Musik, die bruchstückhaft aus der Scheune zu ihr herüberwehte. Tess schluckte und ging langsam auf das offene Tor zu.
Sie hatte schon viele Lastwagen gesehen, aber noch nie solch ein Gefährt. Es hatte zwar auch vier Räder, eine Ladefläche und ein Fahrerhaus. Doch es war nicht so kantig wie die Dampfautomobile in Lorick. Vielmehr sah es aus, als hätte sich jemand die Mühe gemacht, dem rot lackierten Lastwagen ein Äußeres zu verleihen, das so etwas wie Eleganz und Stärke vermitteln sollte. Aus einem kleinen schwarzen Kasten auf der Fensterbank drang die Musik eines ganzen Orchesters. Eine Frau sang mit schmerzerfüllter Stimme.Tess trat fasziniert einen Schritt vor, um den Kasten genauer in Augenschein zu nehmen, als sie mit dem Fuß gegen einen leeren Blecheimer stieß.
»Porter!«, rief eine Stimme. »Sei nicht so ungeduldig. Du bekommst gleich dein Fressen. Lass mich das nur
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