Morland 03 - Das Vermächtnis der Magier
Richtung des Ausgangs. »Die meisten liegen da draußen oder haben sich den Irren angeschlossen.« Sein Lachen verwandelte sich in ein bellendes Husten. Er schaute die Zigarre angewidert an und warf sie fort. York trat sie aus. »Mir haben sie das Gewehr in die Hand gedrückt, um das Hotel zu bewachen. Sechs Patronen, das ist alles, was ich habe«, sagte er kopfschüttelnd. »Ihr gehört auch zu den Verrückten, nicht wahr? Ihr habt diese Dinger angefasst. Sonst hättet ihr nicht die Sache mit dem Gewehr machen können.« Der Mann kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Wieso seid ihr nicht durchgedreht wie die andern?«
»Diese Verrückten, wie Sie sie nennen, machen Jagd auf Sie?«, fragte Hakon.
Sein Gegenüber musste nachdenken. »Nein«, stellte er ein wenig erstaunt fest.
»Dann sind Sie hier sicher«, sagte Hakon. »Wie heißen Sie?«
»Larus. Larus Varberg.«
»Also Larus, ich schlage vor, dass Sie weiter die Stellung halten, in Ordnung?« Er gab dem Mann das Gewehr zurück. »In der Zwischenzeit werden wir da draußen alle, die noch nicht infiziert sind, zu Ihnen schicken.«
Der Portier ergriff die Waffe, stand auf und strich seine Uniform glatt, als könnte er durch diese Geste seine Würde wiedergewinnen. Er bückte sich nach der Patrone und betrachtete sie kurz. Dann steckte er sie in seine Jackentasche.
Hakon trat an eines der Fenster und schaute besorgt hinaus.
»Ich wünschte, Tess wäre hier«, sagte er zu York.
»Ja, geht mir genauso«, erwiderte sein Freund. »Hast du Kontakt zu ihr aufnehmen können?«
Hakon schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, wo sie sich befindet. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt.
York verzog das Gesicht. »Das ist nicht gut.«
»Nein«, sagte Hakon und lachte trocken. »Das ist überhaupt nicht gut. Ich kann nur hoffen, dass sie nicht von Begarells Kollektiv geschnappt wurde.« Er holte tief Luft. Sein Seufzer klang müde. »Lass uns draußen nachsehen, wie schlimm es wirklich um Morland steht.«
»Und was ist mit ihm?«, fragte York und zeigte auf Mersbeck.
»Den nehmen wir mit«, sagte Hakon. »Er soll sehen, welche Hölle Begarell entfesselt hat.«
***
Der Baum, dachte Tess verwundert und blickte hinauf in die weitausladende Krone einer majestätischen Esche, deren frühlingsgrüne Blätter leise im Wind rauschten. Der Baum war derselbe, der in Noras Garten stand! Benommen strich sie mit der Hand über die Rinde, als könnte sie auf diese Weise erfahren, wo sie sich befand. Tess wischte sich eine Strähne aus der Stirn und lauschte. Aber die Esche schwieg, natürlich. Sie musste lachen, als sie merkte, was sie da tat. Nicht einmal ihr Freund Hakon konnte mit Bäumen sprechen.
Wo war sie? Noras Haus in Lorick war verschwunden, als Tess über die Gartenmauer geklettert war. Aber die Frage war womöglich falsch gestellt. Denn vielleicht hatte sie Morland gar nicht verlassen. Vielleicht befand sie sich nur in einer anderen Zeit. Dann durften sich die Landmarken nicht verändert haben. Aber Noras Haus hatte nie auf einem Hügel gestanden. In ganz Süderborg gab es keine einzige Anhöhe, die sich mit dieser vergleichen ließ. Und was war mit der Midnar, die nicht weit entfernt durch Lorick floss? Tess schob einige tief hängende Äste beiseite und trat in die Mittagssonne. Das Land, das sich zu ihren Füßen bis zum nördlichen Horizont erstreckte, war weit und flach. Ein lang gezogener Auenwald ließ einen Bach oder Fluss erahnen, doch keinen so mächtigen Strom, wie er östlich von Lorick in die See mündete.
Die See, natürlich. Eigentlich müsste man sie von hier aus sehen, dachte Tess. Sie wandte sich nach rechts, doch da war nur ein grünes Meer aus Bäumen.
Niedergeschlagen setzte sie sich ins hohe Gras und rupfte einen Halm aus. Nora war der mächtigste und älteste Gist, dem Tess bisher begegnet war. Niemand außer dieser blinden Frau war in der Lage, Tore zu anderen Welten aufzustoßen. Eine solche begann hinter der Gartenmauer, über die Tess geklettert war. Nora hatte sie davor gewarnt, diese Grenze zu überschreiten. Doch Tess hatte keine andere Wahl gehabt. Sie brauchte Hilfe. Nora hatte den geheimen Versammlungsort der Gist zerstört, um ihnen jede Rückzugsmöglichkeit zu nehmen und sie so zum Kampf gegen die Eskatay zu zwingen. Dann war sie in einen tiefen Schlaf gefallen, aus dem niemand sie wecken konnte.
Aus Verzweiflung hatte sich Tess in die Welt hinter der Gartenmauer geflüchtet. Nun musste sie einsehen, dass sie gestrandet war
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