Morland 03 - Das Vermächtnis der Magier
noch zu Ende schrauben.«
Erst jetzt sah Tess die zwei Beine, die unter dem Laster hervorschauten. Sie räusperte sich.
»Ich bin nicht Porter.«
Die Opernsängerin schien gerade zu sterben, denn ihre Stimme erklomm unmenschliche Höhen. Ihr letzter Ton schwebte einige Sekunden in der Luft, wo er von den Streichern aufgenommen und davongetragen wurde.
Langsam rollte der Mann, der auf einem flachen Wagen lag, unter dem Laster hervor und stand auf. Er war vielleicht dreißig Jahre alt und trug einen hellbraunen einteiligen Arbeitsanzug. Sein kurzes, blondes Haar stand nach allen Seiten ab, als wäre er gerade erst aus dem Bett gestiegen. Die Gesichtszüge wären vielleicht ganz ansprechend gewesen, wenn er Tess nicht so fassungslos angestarrt hätte. Nun legte er den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. Es schien, als könnte er nicht glauben, was er sah. Tess schluckte, wich seinem prüfenden Blick jedoch nicht aus.
»Wer schickt dich? Nora?«
»Nein. Ich habe allein den Weg hierhergefunden«, sagte Tess.
»Das glaube ich nicht«, sagte der Mann. »Wenn dem so wäre, besäßest du Noras Fähigkeiten. Und die hast du nicht. Das spüre ich.«
»Nora hat mich gewarnt«, sagte Tess schließlich. »Sie hat gesagt, ich solle ihren Garten nicht verlassen. Aber ich bin trotzdem über die Mauer geklettert, weil ich gehofft habe, hier Rettung für sie zu finden.«
Aufgeregt fasste sie der Mann an der Schulter und sah sie mit seinen blauen Augen durchdringend an. »Was ist mit ihr geschehen?«
»Sie schläft und ich kann sie nicht wecken.«
Der Mann stieß einen derben Fluch aus. »Wie lange ist sie schon in diesem Zustand?«
»Seit mehreren Stunden«, sagte Tess. »Seitdem sie das Grand Hotel geschlossen hat.«
Der Mann ließ sie los. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und schien nachzudenken. »Gehörst du etwa zu Iljas Leuten?«, wollte er wissen.
»Wovon reden Sie?«, fragte Tess.
»Vom Krieg«, sagte der Mann. »Vom Krieg zwischen den Menschen und den Eskatay.«
»Abe r … der ist schon seit sechstausend Jahren beendet«, sagte Tess.
Der Mann packte sie am Kragen und hob sie hoch. »Hör auf, mich auf den Arm zu nehmen!«, knurrte er. »Woher kommst du?«
»Aus Morland«, keuchte Tess, während sie versuchte, mit ihren zappelnden Füßen Halt zu finden.
»Morland? Wo ist das? In England?«
»Lassen Sie mich los!«, krächzte sie. »Ich bekomme keine Luft mehr!«
Schwer atmend setzte der Mann sie ab. »Noch einmal: Wie bist du hierhergekommen?«
»Ich bin in Noras Garten über die Mauer geklettert.«
»Nora hat nie ein Haus besessen.«
»Doch«, sagte Tess verzweifelt. »In Süderborg. Sie verkauft dort Trödel und andere Waren aus zweiter Hand.«
»Dann reden wir offensichtlich von zwei verschiedenen Personen«, sagte der Mann.
»Beschreiben Sie sie!«
»Klein, schwarzhaarig, Pagenkopf. Sie ist so alt wie ich.«
»So kenne ich sie auch«, sagte Tess. »Aber so war sie nur im Grand Hotel. Im wahren Leben ist sie eine alte, blinde Frau.«
Der Mann klopfte die Taschen seines Arbeitsanzuges ab und holte ein zerknautschtes Päckchen hervor. Er steckte sich etwas in den Mund, das entfernt an eine Zigarre erinnerte, und zündete es mit einem Feuerzeug an, wie Tess noch nie eines gesehen hatte. Dann setzte er sich und strich Porter über den Kopf.
»Sechstausend Jahre sagst du?«
Tess nickte. Der Mann hustete.
»Wie heißt du?«
»Tess. Tess Gulbrandsdottir«, sagte Tess. »Bitte, ich muss wieder zurück. Sonst stirbt sie!«
»Wenn es stimmt, was du sagst, ist Nora bereits gestorben«, sagte der Mann. »Du wirst ihr nicht mehr helfen können.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Tess verwirrt.
Der Mann lachte bitter. »Ich auch nicht. Aber in dem Moment, als du über die Mauer geklettert bist, war sie schon tot.« Er schob einen kleinen Schemel heran, damit Tess sich setzen konnte, doch sie zog es vor, stehen zu bleiben. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Schweigend starrte er auf seine Hände. »Das hat wohl mit diesem Ort zu tun. Es ist der Ort, an den mich Nora damals geschickt hat. Hier vergeht die Zeit offensichtlich viel langsamer als in Morland. Du sagst, dass seit dem Krieg sechstausend Jahre vergangen sind? Nun, für mich sind es nur drei.«
Ihre Beine wurden weich und Tess rutschte an der Tür des Lastwagens hinab. Sie kannte diesen Mann nicht, doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass er die Wahrheit sagte. Tess hatte alles verloren: Nora, ihre Freunde – und
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