Morland 03 - Das Vermächtnis der Magier
hinten an einem Tisch und schlichtet mal wieder einen Streit.«
Hakon ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, konnte aber Boleslav Tarkovski nirgendwo sehen.
»Du wirst ihn vermutlich nicht erkennen – ohne seinen Schnurrbart und den dicken Bauch«, sagte Nadja. »Komm mit.«
Tatsächlich entsprach der Mann, zu dem sie ihn führte, kaum der Erinnerung, die Hakon von seinem Vater hatte. Nichts war geblieben von der bärenhaften Gemütlichkeit, die Boleslav Tarkovski früher ausgestrahlt hatte.
»Also, noch einmal zum Mitschreiben für die ganz Begriffsstutzigen«, sagte Boleslav ruhig. »Ich bin der Barackenälteste. Ich bin für die Verteilung der Lebensmittel verantwortlich. Und ich sage: Die Kinder bekommen zuerst zu essen und zwar so viel, wie sie brauchen, um satt zu werden. Ist das klar?«
»Und was wird aus uns?«, giftete ihn ein alter Mann an. »Was ist mit den Alten?«
»Sie und ich, wir haben unser Leben schon gelebt«, sagte Boleslav. »Finden Sie sich damit ab: Uns Erwachsenen bleibt nur das, was die Kinder nicht brauchen.«
Der alte Mann stand auf und stieß dabei den kleinen Hocker um, auf dem er gesessen hatte. »Hier ist noch nicht das letzte Wort gesprochen!«
»Doch. Und falls Sie auf die Idee kommen sollten, uns an die Lagerleitung zu verkaufen, nur damit Sie hier besser leben, werden Sie keine ruhige Minute mehr haben. Dafür sorge ich.«
»Es gibt noch mehr, die wie ich denken«, giftete der Mann zurück. Er stieß Hakon beiseite und stampfte davon.
»Gibt es nicht, du alter Narr«, brummte Boleslav. »Das wissen wir beide ganz genau.«
»Du kannst auch nicht aus deiner Haut«, sagte Hakon. »Einmal Direktor, immer Direktor.«
Boleslav blickte auf und beäugte Hakon misstrauisch. »Nun, mein Junge. Worüber willst du dich beschweren? Aber ich warne dich: Wenn du mir hier mit Kleinkram kommst, kriegst du Ärger.«
»Hallo, Vater«, sagte Hakon.
Boleslav öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne ein Wort hervorzubringen. Mühsam stand er auf und musterte seinen Sohn mit ungläubigem Staunen. »Hakon?«, flüsterte er.
»Ja, ich bin es.«
»Du bist es wirklich«, krächzte Boleslav.
Er nahm Hakons Gesicht in beide Hände. Eine Träne rann ihm über die Wange. »Vera?«, rief er. »Vera, verdammt! Jetzt komm endlich hierher!«
»Was ist denn?«, sagte müde eine Frau und schlug die Decke beiseite, mit der sie sich einen kleinen Privatraum geschaffen hatte. Als sie Hakon sah, stieß sie einen Jubelschrei aus und fiel ihrem Sohn um den Hals. »Du lebst!«
Da lugte auf einmal ein Junge von ungefähr sieben Jahren zwischen den beiseitegeschobenen Vorhängen hervor. Hinter ihm saßen auf dem Boden weitere Kinder im Halbkreis. Auf den Dielen waren einige mit Kohle geschriebene Ziffern zu sehen.
»Kinder«, rief Vera, »das ist mein Sohn, den ich für tot hielt. Aber er lebt!« Sie küsste Hakon immer wieder auf die Wange. »Er lebt.«
»Du gibst Unterricht?«, fragte Hakon mit rauer Stimme.
»Jemand muss es ja tun«, sagte sie. »Wir haben hier viel Zeit, musst du wissen. Sehr viel Zeit. Die Langeweile ist eines unserer größten Probleme.«
»Dann ist dies kein Arbeitslager?«
»Nein«, sagte Vera, nun schon ein wenig gefasster. »Frag mich nicht, wo wir hier sind. Aber ein Arbeitslager ist es auf keinen Fall. Ich wäre fast dankbar, wenn es eines wäre.«
»Es gibt hier eine Frau«, sagte Boleslav. »Doktor Linda Östersund heißt sie und sie ist so etwas wie eine Ärztin. Sie führt Untersuchungen an uns durch mit Apparaten, wie ich sie noch nie gesehen habe.«
»Finden diese Untersuchungen hier statt?«, fragte Hakon.
»Ja«, sagte seine Mutter. »Obwohl das Lager nur der Außenposten einer Einrichtung ist, die von Dr . Östersund ›Statio n 12‹ genannt wird. Es muss ein grausamer Ort sein, denn die Frauen, die dort hingebracht werden, kehren nicht mehr zurück.«
Hakon setzte sich langsam auf den Schemel, auf dem kurz zuvor noch der Mann gesessen hatte, der eine höhere Ration für sich eingefordert hatte, und versuchte das Puzzle zusammenzusetzen.
Begarell hatte die Strategie der Gist durchschaut, so viel war sicher. Er wusste, dass sie ihre Kinder kurz nach der Geburt weggaben, um sie so vor dem Zorn jener Menschen zu bewahren, die Magier hassten und fürchteten. Diesen Weg hatten seine leiblichen Eltern wie auch die von Tess und York gewählt. Dass sie sich später auf so grausame Art das Leben genommen hatten, konnte nur eines bedeuten: Begarell war ihnen
Weitere Kostenlose Bücher