Morpheus #2
Dämmerung hatte eingesetzt. Es war schon fast dunkel.
Das Schweigen dauerte einige Sekunden. Dann wusste sie auf einmal, wer er war und weshalb er hier war.
Seine langen Finger rissen den Schnurrbart ab und gaben das freundliche, jetzt sehr vertraute Lächeln dahinter frei.
«Darum würde ich mir keine Sorgen machen», sagte er, als er aufstand. Aus seinem Mantel zog er ein eigenartiges Messer.
«Ich glaube nicht, dass meine Verteidigerin aus der Schule plaudert», flüsterte er und kam um den Schreibtisch herum.
Und der Schnee schloß sie ein, während das letzte Licht des Gebirgshimmels draußen verlosch.
DREIUNDVIERZIG
Er sah zu, wie sie nach Atem rang, sich mit den Händen die Kehle zuzuhalten versuchte. Die Augen weit aufgerissen, sah sie zu ihm auf, flehte ihn stumm um Hilfe an – ihn, der ihr das angetan hatte.
Er sah nur zu.
Das war der faszinierendste Teil am Töten. Zu erleben, wie der Tod kam. Es war jedes Mal anders.
Die einen wurden ruhig, als täte man ihnen einen Gefallen damit, das Ganze früher als geplant zu beenden. Andere rissen sich zusammen, als würden sie alles andere als würdelos empfinden. Und wieder andere, die drehten durch – strampelten, traten um sich, kämpften mit aller Kraft, die ihnen blieb. Das waren die, vermutete er, die wussten, dass sie es vermasselt hatten. Die auf der Erde offene Rechnungen hinterließen und die noch nicht bereit waren, vor ihren Schöpfer zu treten.
Er war immer aufrichtig zu seinen Opfern, machte ihnen nicht vor, sie hätten noch irgendeine Chance. Er wollte sie nicht in dem Glauben lassen, sie würden nur kurz die Augen schließen und dann wachten sie im Krankenhaus wieder auf, um von jetzt an einen zweiten Geburtstag zu feiern. Nein, er fand, im Angesicht des Todes war Ehrlichkeit angebracht. Also kündigte er ihnen den Tod an, ihnen allen, seit Jahren. Die Gläubigen hatten so noch die Chance zu beten, und die Heiden, nun, die konnten sich noch eines Besseren besinnen.
Die Macht, die er über das Leben hatte, war be-rauschend. Dabei könnte wahrscheinlich jeder Mensch über diese Macht verfügen, doch nur die wenigsten machten Gebrauch davon.
Mit seinen Händen sprach er das letzte Wort.
Das allerletzte. Durfte jemand nach Hause zu seinen Lieben gehen, oder musste er für immer die Augen schließen?
Es war reiner Zufall gewesen, jenes erste Mal, als er entdeckte, welchen gewaltigen Kick es ihm gab, jemandem den Tod zu bringen. Sein Revolver war losgegangen und hatte ein kirschrotes Loch in der Brust eines Mannes hinterlassen. Er war eigentlich fast noch ein Knabe gewesen, vielleicht siebzehn, achtzehn Jahre alt. Er hatte einfach zugesehen, wie der Junge rückwärts taumelte, als die Kugel in seiner Brust einschlug. Zuerst schien er es gar nicht gespürt zu haben, er machte ein überraschtes Gesicht, dann verdunkelte sich seine Miene, und es wirkte, als wollte er sich auf ihn stürzen.
Doch plötzlich gehorchte ihm der Körper nicht mehr, und er fiel auf die Knie. «Scheiße!», schrie er, eine Hand vor die Brust gepresst. Dann begann das Husten. Das Röcheln. Das Flehen. «Verdammte Scheiße, Mann! Holen Sie Hilfe!», heulte er dann, bis ihm die Stimme versagte.
Er aber hatte einfach zugesehen – wie der Schurke in einem schlechten Gangsterfilm –, faszi-niert davon, dass dieser Mistkerl, der, ohne zu zögern, zuerst geschossen hätte, jetzt auf Knien um Hilfe flehte. «Ich glaube, du stirbst», hatte er gesagt.
Dann fing das Strampeln und Treten an, als sich der Junge gegen das letzte Treffen mit einem Gott wehrte, der mehr als enttäuscht von ihm sein musste.
Damals hielt er sich für ein Monster. Was er getan hatte, jagte ihm Angst ein, und das, was er un-terlassen hatte, noch viel mehr. Seine Gefühle, während er dem Mann beim Sterben zusah, verstör-ten ihn – eine unerwartete, beinahe erotische Erre-gung. Dann kamen die anderen, klopften ihm auf die Schulter und riefen: «Glückwunsch!», während sie den Jungen in einen Leichensack stopften. Für sie war der Junge der Böse, und er war ein Held, der getan hatte, was getan werden musste. Töten.
Die Bösen zu töten war in Ordnung, hatte man ihn gelehrt. Es war sogar gut.
An jenem Tag war er ein anderer Mensch geworden. Etwas tief in seinem Inneren war erwacht, das bisher geschlummert hatte. Wie ein Vampir oder ein Werwolf war er süchtig geworden nach dem Tod, er gierte nach dem Rausch, dem Geschmack dieser absoluten Macht, die er in Händen hielt. Jahrelang fragte
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