Morpheus #2
er sich, ob er ein Monster war, doch im Grun-de glaubte er das nicht. Er musste nur in die Zeitung sehen, um zu wissen, dass da draußen noch andere wie er waren. Überall im Land. Überall auf der Welt. Und wie alle Süchtigen tröstete ihn diese Erkenntnis. Und so hatte er sich auf die seltsame Reise gemacht, seinesgleichen zu finden.
Der Teppich saugte das Blut auf wie ein Schwamm, langsam kroch es durchs Zimmer. Er achtete darauf, nicht hineinzutreten, als er um den Tisch zum Postausgangskorb ging. Obenauf lag der gelbe Polsterumschlag, frankiert und adressiert an Neil Mann, Esq. in Coral Gables, Florida.
Bald ist es vollbracht, dachte er, als er den Umschlag an sich nahm und in den Mantel steckte. Mit behandschuhten Händen knipste er das Licht aus und schloss die Jalousien am Fenster. Dann legte er sich den Mantel um die Schultern und trat hinaus in den Schneesturm, um seine Mission zu Ende zu bringen.
VIERUNDVIERZIG
«Und jetzt will die durchgeknallte Alte mit mir zu-sammenziehen. Und dabei hat sie mir fast die Eier geröstet, als sie mich mit der Tante vom Drugstore erwischt hat. , hat sie ge-schrien. Und jetzt will sie heiraten und ein Kind von mir. Ist das noch zu fassen?» Manny gähnte und zog an seiner Zigarette. «Ich hätte nie auf die Party der Verteidiger gehen sollen. Nie. Bricht mir jedes Mal das Genick, Dom. Ein paar Drinks und einmal ins Heu um der alten Zeiten willen, und jetzt muss ich meine Freiheit gegen eine Couchgarnitur vom Möbelhaus eintauschen.»
«Du bist gewarnt worden, Kumpel.» Eigentlich hatte Dominick allein nach Raiford fahren wollen. Er brauchte die fünf Stunden Fahrt, um über das, was C. J. gesagt hatte nachzudenken, und vor allem über das, was sie nicht gesagt hatte. Doch Manny hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten, und so verbrachte Dominick die Zeit damit, dem Bär beim Schnarchen oder beim Jammern zuzuhören. Vielleicht war es gut, dass er auf diese Weise etwas abgelenkt wurde. Zu viel Grübeln über das, was vor ihm lag, hätte ihn fertig gemacht. Dabei musste er Ruhe bewahren.
«Stimmt schon. Der Boss hatte mich gewarnt, und sie weiß schließlich am besten, wie durchgeknallt ihre Sekretärin ist… » Der Bär schwieg betreten. Jeder bei der Task-Force wusste, dass C. J.
alles stehen und liegen gelassen hatte und aus Miami verschwunden war. Da Dominick weiterhin je-
den Tag zum Dienst erschienen war, musste man kein Genie sein, um zu folgern, dass sie auch aus seinem Leben verschwunden war. Die meisten Kollegen hatten ihn in Ruhe gelassen, damit er ungestört seine Wunden lecken konnte. Doch nicht so Manny – dem schwebte genau das Gegenteil vor.
Manny hatte Erfahrung, was Trennungen anging, und er wusste, was Dominick jetzt brauchte: einen guten Kumpel, gute Witze und eine Menge Drinks, um über die ersten Wochen zu kommen und wieder Fuß zu fassen. Was er ganz bestimmt nicht brauchte, war ein einsamer Ausflug in den Todestrakt, um den psychopathischen Serienkiller zu interviewen, der vor Gericht behauptet hatte, er hätte seine Freundin beziehungsweise Exfreundin vergewaltigt.
Nein, Manny fand, das war überhaupt keine gute Idee, als er mitbekommen hatte, wie Dom telefonisch einen Termin im Staatsgefängnis ausmachte.
«Schon gut, Bär», sagte Dominick, als das Schweigen ein bisschen zu lange dauerte. «Ich halte es aus, wenn ihr Name erwähnt wird. Ich bin schließlich erwachsen.»
«Frauen, Dommy. Ich bin echt kein Experte –sieh mich an, ich gehe mit einer Irren aus, die Mrs.
Alvarez Nummer vier werden will, und denke auch noch ernsthaft drüber nach –, aber, was soll ich sagen? Fühlt sich weich an und riecht gut. Dann klim-pern sie mich mit diesen Augen an und wackeln ein bisschen mit dem Hintern, und schon werd ich schwach. Jedes Mal dasselbe Spiel.»
«Reden wir jetzt über deine Probleme oder über meine?»
«Du stehst nicht allein da, das wollte ich damit sagen. Wir alle haben mal eine verloren, bei der es richtig wehtat.»
Bei Dominick war es allerdings schon die zweite.
Die einsame Schnellstraße, auf der sie jetzt fuhren, war gesäumt von hohen Kiefern, die zu einer einzigen grünen Masse verschwammen, hier und da getupft von den Schildern einer Tankstelle oder eines Schnellimbiss. Dominick dachte an Natalie, seine erste Verlobte, seine erste große Liebe. Langes, braunes Haar, das ihr bis auf die Hüften fiel, braune Rehaugen, die ihn anstrahlten, selbst wenn sie die Lippen nicht bewegte. «Sieben ideale
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