Morpheus #2
einer schlechten Anwältin, aber dafür zu einem gu-
ten Menschen machen. Und mit dieser verdammten Entscheidung muss ich seither leben. Und täglich wird es schwerer. Es tut mir Leid für Sie, C. J. aber Sie sind am Leben. Er hat Sie nicht umgebracht.
Und ich werde Ihnen nicht helfen, ihn umzubringen.»
Das war es. Sie hatten nichts mehr zu besprechen. C. J. stand auf und hielt nur mit Mühe die Tränen zurück. Sie nickte Lourdes ein letztes Mal zu, dann trat sie aus der Tür hinaus in den heulenden Schneesturm. Das Glöckchen verstummte, als ein eisiger Windstoß die Tür hinter ihr zuschlug.
ZWEIUNDVIERZIG
Lourdes blieb noch eine lange Zeit am Schreibtisch sitzen, nachdem C. J. gegangen war. Das Gesicht in den Händen vergraben, lauschte sie dem Ticken der Wanduhr und dem vertrauten Glucksen der alten Kaffeemaschine hinten in der Küche.
Wer zieht diese Grenze, Lourdes?
C. J.s Worte hallten in ihrem Kopf nach. Sie war sich bewusst, dass sie nur deshalb nicht geantwor-tet hatte, weil sie die Antwort nicht wusste. Es war ihr bedrängtes Gewissen, das sie damals aus Miami vertrieben hatte, fort von Freunden, Familie und einer erfolgreichen Kanzlei. Hier oben in den Bergen versteckte sie sich nun vor ihren Sünden, in der Hoffnung, die Zeit würde den Schmerz lindern.
Doch er wurde immer nur noch schlimmer. Nagen-de Schuldgefühle – war das angeboren oder aner-zogen? Oder eingeimpft von einer Mutter, die jeden Abend vor dem Essen aus der Bibel las, selbst wenn auf dem Tisch nichts zu essen stand? Manche Menschen hatten angeblich kein Gewissen –und wenn es sich bis zum Alter von drei, vier Jahren nicht herausgebildet hatte, war es für alle Zeiten zu spät. Andere hatten zwar eines, doch sie ignorierten es ständig. Wieder andere hatten ein Gewissen, doch es maß mit zweierlei Maß. Wer sagte, dass das Gewissen, dieser treue Freund, immer Recht hatte? Wer zieht diese Grenze, Lourdes?
Sie war mit Bill Bantling befreundet gewesen, bevor er als Mandant zu ihr kam. Sie hatte seinen hinreißenden blauen Augen den Soziopathen nicht angesehen, bis er sie schließlich mit beiden Armen festhielt und es ihr selbst erzählte, dass er ein Vergewaltiger war. Und sogar da hatte sie noch nicht begriffen. Hier muss ein Irrtum vorliegen, dachte sie. Doch dann hatte sie die Berichte gelesen – die New Yorker Polizeiberichte, in denen alle Grausam-keiten anschaulich beschrieben wurden, die Bill Bantling hinter seiner Clownsmaske mit seinem scharfen Messer angestellt hatte. Die Lektüre war unerträglich. Die unvorstellbaren Verletzungen…
Lourdes wusste, dass C. J. sich nie ganz davon erholen würde, weder körperlich noch seelisch. Wie konnte eine Frau so etwas je überstehen?
C. J.s Gefühle verstand sie gut, doch Lourdes’
Gewissen erlaubte es ihr nicht, C. J.s Taten zu ent-schuldigen. Warum? Warum war es falsch, Bantling für seine Verbrechen büßen zu lassen, endgültig, selbst wenn es letztlich für Verbrechen war, die er nicht begangen hatte? Warum regte sich ihr Gewissen hier, nicht aber bei der Tatsache, dass Bill es immer wieder tun würde, falls sich die Tür seiner Zelle je öffnete?
Und sie wusste nur zu gut, dass dem so wäre. C.
J. hatte Recht. Der wahre Bill Bantling war ein Raubtier. Seit er sie in sein kleines Geheimnis ein-geweiht hatte, wusste sie das, denn ab diesem Zeitpunkt gab er sich keine Mühe mehr, sich vor ihr zu verstellen. Die List mit der Freundschaft war auf-geflogen, und plötzlich war sie nur noch dazu gut gewesen, um ihn freizubekommen. Und sie hatte eingewilligt. Sie hatte eingewilligt, ihn zu vertreten.
Sie hatte eingewilligt, mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln für seine Belange einzutreten.
Und darin hatte sie versagt. Das war der Grund, weshalb ihr Gewissen sie nicht ruhen ließ. Weshalb sie davongelaufen war.
Lourdes wusste, was zu tun war, und wieder war Zeit von entscheidender Bedeutung. Sie konnte ihn nicht sterben lassen, weil sie versagt hatte. Der schlimmste Verbrecher verdiente immer noch eine gute Verteidigung – das war das Fundament des Rechtssystems. Wenn sie eines Tages selbst vor Gericht stünde, würde sie von ihrem Verteidiger nicht weniger erwarten. Und doch hatte sie Bill vorsätzlich im Stich gelassen. Sie betrachtete das Tonband in ihrer Hand, 911-19/09/2000 20:12 stand auf dem Etikett. Das Tonband, das sie vor drei Jahren vom Archiv des Miami Beach Police Department angefordert hatte, bevor das Original gelöscht wurde. Sie hatte es
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