Morpheus #2
die ganze Zeit in der Schublade gehabt, als ständige Erinnerung an ihr Versagen.
Jetzt schob sie das Band in einen gepolsterten Umschlag, versiegelte ihn und legte ihn in den Korb mit der ausgehenden Post. Sie würde ihn später auf dem Weg nach Hause einwerfen.
Plötzlich klingelte das Glöckchen über der Tür, und Lourdes sah auf. Die Wanduhr zeigte 16.30
Uhr. Wo war die Zeit geblieben? Hinter den Jalousien waren die Scheiben längst blind vor Schnee.
Die Nachrichten hatten gestern Abend vor dem Schlimmsten gewarnt, doch natürlich war Lourdes trotzdem nicht vorbereitet. Sie hätte vor zwei Stunden direkt nach C. J. gehen sollen, denn die Stra-
ßen waren inzwischen wahrscheinlich voller Schneeverwehungen.
Und jetzt kam auch noch der Mandant, den sie für halb fünf bestellt hatte. Sie hatte ihn völlig vergessen. Er kämpfte sich durch den tobenden Schneesturm bis hierher, und sie hatte nicht einmal in den Terminkalender gesehen. Lourdes riss sich zusammen, dann stand sie mit einem Lächeln hinter dem Schreibtisch auf und kam ihm entgegen, um ihn zu begrüßen.
«Ms. Rubio? Puh! Ich war mir nicht sicher, ob Sie überhaupt noch da sind bei dem Wetter», sagte er und schüttelte sich. «Aber dann hab ich gedacht, Sie hätten sicher angerufen.» Das weiche Näseln in seiner Stimme verriet, dass er aus dem Mittleren Westen kam.
Verdammt. Sie erinnerte sich nicht einmal an seinen Namen. Uriger? Etwas in der Art. «Sieht ziemlich schlimm da draußen aus, nicht wahr, Mr….?»
«Uustal, Al Uustal. Sie erinnern sich doch? Wir haben telefoniert.» Der Mann klopfte sich den Schnee vom schwarzen Mantel und legte ihn sich über den Arm, die Wollmütze behielt er auf.
Sie nickte. «Ja. Entschuldigen Sie, Mr. Uustal.
Was für ein Schneesturm!» Sie warf noch einen Blick hinaus, die Schneewehen türmten sich schon bis hoch zum Fenster, und die Straße wirkte leer ohne die Autos, die sonst dort parkten. «Ich staune, dass Sie es bis hierher geschafft haben.»
«Oh, ich hätte unseren Termin doch nicht ausfal-len lassen.»
Sie rückte ihm den Sessel vor dem Schreibtisch zurecht, dann setzte sie sich selbst und suchte nach ihrem Notizblock. Da er schon einmal hier war, konnte sie ihn schlecht fortschicken. «Ich hatte heu-
te Nachmittag in einer dringenden Angelegenheit zu tun und habe die Zeit ganz aus dem Auge verloren.
Entschuldigen Sie das Durcheinander.»
«Schon gut. Das verstehe ich.»
«Also», sagte sie dann und holte Luft. Mit einem seriösen Lächeln sah sie ihn über die Brille hinweg an. «Was führt Sie zu mir?»
«Naja, das liegt wohl auf der Hand. Ich brauche Ihre Hilfe. Ich… also… Es ist etwas schwierig.» Er sah sich nervös um, dann lehnte er sich über den Tisch und flüsterte: «Das, was ich Ihnen sage – dürfen Sie das weitererzählen?»
«Nein, Mr. Uustal. Was Sie mir hier sagen, fällt unter das Anwaltsgeheimnis. Keiner wird davon erfahren. Das Anwaltsgeheimnis schließt auch meine Angestellten mit ein. Obwohl», setzte sie nach, um ihn zu beruhigen, «im Moment niemand außer uns hier ist. Sie können also ganz frei sprechen.»
Er nickte und lehnte sich wieder zurück. «Es geht um einen Mord. Eine Frau, sie -»
«Oh, verzeihen Sie», unterbrach sie ihn und hob die Hand. «Ich möchte Sie nicht unterbrechen, doch Strafrecht fällt nicht mehr unter mein Ressort, Sir.
Früher, aber… jetzt nicht mehr. Die einzige Straftat, mit der ich mich noch beschäftige, ist Trunkenheit am Steuer.» Sie zog das Rolodex näher heran und begann zu blättern. «Ich mache nur noch Schadensersatz, aber ich empfehle Ihnen gern einen Strafverteidiger.»
Besorgt zupfte Uustal sich am Schnurrbart und wischte mit der Hand über den Mund. Mit der Mütze und der getönten Brille war es schwierig, ihm in die Augen zu sehen. «Ich weiß nicht, ob ich wirklich einen Strafverteidiger brauche», sagte er. «Wissen Sie, zu dem Mord ist es gar nicht gekommen. Noch nicht.»
Wieder hob Lourdes die Hand, um ihn zu unterbrechen. «Zukünftige Verbrechen unterliegen nicht dem Anwaltsgeheimnis, Mr. Uustal. Falls Sie also Kenntnisse über ein Verbrechens haben, das verübt werden soll, und mir davon erzählen, ist diese Information nicht vertraulich, und ich müsste die Behörden darüber informieren.»
Plötzlich überkam Lourdes Rubio eine unangenehme Vorahnung. Hinter dem Rücken des Mannes sah sie die Eisblumen, die inzwischen das ganze Schaufenster überzogen. Draußen tobte das Schneetreiben, und die
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