Morphin
die Neger suchten das Weite, sie hinterher, bis sie die Mütze wiederhatten, wenn auch vom Maschinengewehr durchschossen.
Er hat dir die Mütze damals gezeigt, als Beweis für diese Geschichte, erinnerst du dich? Im rechteckigen Deckel oben auf dem Helm war ein Loch, so groß, dass dein Finger hineinpasste.
Also zeigte ich es den Klassenkameraden. Mit dem Finger machte ich ein Loch im Lehrbuch und zeigte: So eins hatte mein Vater in seiner Ulanenmütze! Dafür hat mich mein Lehrer dann bestraft. Aber die Neger hat Vati verjagt, und einem von ihnen hat er sogar mit dem Säbel den Schädel abgeschlagen! Das haben sie mir dann geglaubt, ohne Beweise geglaubt, auch wenn ich den abgeschlagenen Schädel dazuphantasiert hatte. Der Vater hatte nichts von einem abgeschlagenen Negerkopf gesagt. Nach Hause hat er auch keinen gebracht.
Dafür kam der Vater später ohne Gesicht nach Hause und erzählte keine Geschichten, er sagte überhaupt nichts mehr.
Sie ließen mich ihn nicht sehen, aber ich schlich mich hin, lugte durch die angelehnte Tür und sah seine Silhouette, plötzlich mager und schmal, fast mädchenhaft. Er war nicht großgewachsen – er war sehnig wie die Bergarbeiter in der Grube, klein, mager, voller knubbliger Muskeln, hatte schmale Hüften und breite, wenn auch schlanke Schultern. Doch jetzt war er hager wie ein Fräulein, klein und dürr. Er stützte sich auf die Schultern von Mutter und dem Dienstmädchen, beiden waren massiger, kräftiger als er, die graue Uniform hing an ihm wie an einer Vogelscheuche. Ich hörte, wie sie ihn zu Bett brachten, und hörte seinen Atem, hörte die ganze Nacht, wie er pfiff und röchelte, wie die vernarbten Organe im Rachen arbeiteten.
Und dann schaute ich einmal durchs Schlüsselloch und sah.
Im Zimmer brannte Licht, Mutter wickelte die Scharpien ab, mit denen Vaters Gesicht bedeckt war, wickelte sie ganz ab, er drehte sich, und ich sah diese schreckliche Maske, die das bekannte, geliebte Gesicht ersetzt hatte, das schöne, deutsche, goldbärtige und blauäugige Gesicht.
Und ich schrie.
Dein Vater hörte diesen Schrei. Und verstand.
Deine Mutter hörte diesen Schrei. Und sie wusste, dass ihr geliebter Junge, der einzige, der sie zu schwängern vermocht hatte, ihr kleiner Baldur mit dem goldenen Haar und dem zerfetzten Gesicht, diesen Schrei gehört und verstanden hatte.
Mutter stürzte aus Vaters Zimmer, packte mich am Schlafanzugkragen, zog mich brutal in mein Zimmer und prügelte mich schrecklich: Sie entblößte meinen Hintern, peitschte ihn mit der Rute, und das Haus war mit zweistimmigem Geheul erfüllt: meinem und dem dumpfen, röchelnden Heulen meines Vaters.
Ich bekam schon mal eine geknallt, Prügel waren für mich nichts Neues, aber so schlimm war es nie, weder vorher noch nachher.
Aber sogar als sie mich prügelte, heulte ich mehr aus Angst vor diesem Gesicht eines Ungeheuers als vor Schmerz. Vor Schmerz heulte mein Vater, und zwar leise, oder genauer, er wollte heulen und konnte doch mit seiner neuen, schrecklichen Stimme nur quengeln, er zischte und röchelte: «Schlag ihn nicht, hör sofort auf, ihn zu schlagen, schlag ihn nicht!», denn er wusste, dass sie mich nicht liebte, dass sie nur ihn liebte, nicht die Frucht ihres Schoßes, denn lieben kann sie nur, was diesen Schoß erfüllte, nicht das, was er hergegeben hat.
Danach lag ich allein in leerer Nacht, mit brennendem Hinterteil, und versuchte, sie nicht zu hören, und sah in der Dunkelheit dieses sein schreckliches, unmenschliches Nichtmehrgesicht, das geschwollene Nichtgesicht, das Narbengesicht, das Wundengesicht, das Lochgesicht, den schmalen Strich der furchtbaren Lippen und die schwarzen Fäden der chirurgischen Nähte.
Ich hörte, wie sie sich nachts unterhielten, in ihren Stimmen Zorn, ein neuer, seltsamer Zorn.
Am nächsten Tag ging ich nicht zur Schule. Niemand schickte mich hin, also ging ich nicht. Als Mutter aus dem Haus war, schlüpfte ich in Vaters Schlafzimmer und schmiegte mich an ihn, der so wenig älter war als ich, an seine hageren Schultern. Ich flüsterte: «Ich liebe dich, Vati …»
Ein stummes Schluchzen schüttelte ihn, er zuckte eine Weile, als hätte er Krämpfe, drehte sich aber nicht zu mir, streichelte mich nicht. Ich ging hinaus. Drei Monate lang war ich dann nicht in dem Zimmer, in dem mein Vater lag. Ich hörte nur sein Pfeifen, sein Röcheln und Stöhnen.
Drei Monate später hast du ihn wiedergesehen, Kostek, weißt du noch? An einem Sonntag. Der erste
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