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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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Lektüre des Briefes, den du hier so grausam hast liegenlassen, nicht länger mit dir unter einem Dach sein. Für immer Dein, Iga.»
    Darauf packte sie rasch ihren Koffer, verließ die Wohnung und nutzte die zwei Tage zuvor eingetroffene Einladung auf den Gutshof bei Kobryń, wo am siebten September Dionysien zur Abwehr des deutschen Angriffs stattfinden und fotografisch dokumentiert werden sollten. Dort gab sie ihren Körper fremden Männern hin, die wussten, dass es Polen nicht mehr gab – das Polen, das ihren Wert und ihre Bedeutung definierte, das Polen, das sie selbst mit aufgebaut und für das manche von ihnen zwanzig Jahre zuvor im Krieg gekämpft hatten. So feierten diese Männer das Ende ihres Lebens, um dann nach Rumänien oder Ungarn zu fliehen oder den Sowjets in die Hände zu fallen, manchen gelang es auch, nach Frankreich und nach London zu kommen, wo sie ihr wertloses Leben beendeten, denn das Polen, dass ihnen als Männern und Menschen ihren Wert verliehen hatte, gab es nun endgültig nicht mehr.
    Iga indes wurde erniedrigt, geschlagen, gepeitscht, nicht sehr schmerzhaft, denn diese Geißelung hatte nur symbolischen Charakter, man kopulierte mit ihr, die beringten Finger hässlicher, dickbäuchiger Männer drückten in ihr Fleisch, ihre schmalen Schenkel und die kleinen weichen Brüste, Glieder penetrierten sie, die ihren Besitzern häufig den Gehorsam verweigerten, dann wurde sie wieder gegeißelt, der Leicaverschluss klickte, und gehorsam hielt sie Gesäß und Schenkel und Rücken der Peitsche hin, öffnete Mund und Beine und sang Lieder in üblem Gymnasiastengriechisch.
    Klebrig danach, wusch sie Samen, Schweiß und Speichel ab, kleidete sich an, schloss sich dann aber nicht den anderen Damen an, die im Salon Platz nahmen. Die bezahlten Frauen wurden nicht in den Salon geladen, das gehört sich nicht, geladen wurden nur die Damen, die nun unter Wahrung sämtlicher gesellschaftlicher Formen im Salon saßen und sich dem höflichen Gespräch widmeten, dessen Hauptthema die Frage «was jetzt?» war. Unter ihnen auch ein paar Männer, die an der Orgie teilgenommen hatten, die meisten hatten schon ihre Fiats, Opel, Chevrolets und Buicks und Hispano-Suiz und sportlichen Alfa Romeos und Mercedes’ und auch Pferdefuhrwerke zur Fahrt bereitgemacht und kehrten zurück in den grauen Rest ihrer schrumpelnden Leben.
    Iga schloss sich weder den Damen im Salon noch den im Aufbruch begriffenen Männern an, sondern den vier bezahlten Frauen, die Geschichte und Krieg besser verstanden und nach Warschau zurückwollten. Da es keine anderen Transportmittel gab, stahlen sie ein Auto vom Hof, einen kleineren Fiat, den Iga, eine vorzügliche Fahrerin, lenkte. Sie nahmen auch die Negative samt Apparat mit, in dem der Fotograf sie zurückgelassen hatte, in der richtigen Annahme, sie würden ihm in dem Leben, das vor ihm lag, zu nichts nutze sein. Allenfalls ein Archäologe hätte vielleicht irgendwann den verrosteten Fotoapparat in Piatichatki ausgegraben, die Negative aber hätte man nicht mehr entwickeln können, es wäre also nicht zum Skandal gekommen.
    Und sie durchfuhren das seltsame, leere Nicht-Polen zwischen Kobryń und Warschau, und bis Radzymin fielen sie unterwegs niemandem auf und sahen keinen einzigen Soldaten: weder einen polnischen noch einen deutschen oder sowjetischen, sahen überhaupt wenig Menschen, fuhren wie durch ein Land jenseits der Geschichte, der Zeit und jenseits der Welt, bis sie schließlich in Radzymin kurz vor Warschau angehalten wurden. Salomé floh beim bloßen Anblick der Soldaten und wusste nicht, was dann weiter mit Iga passierte, sie floh, weil sie Angst hatte, erschossen zu werden, denn Iga machte den Deutschen eine fürchterliche Szene. Salomé kehrte zu Fuß in die Stadt zurück, und Iga kam in Arrest.
    All das erzählen mir Iga und Salomé jetzt, betrunken und berauscht, kichernd wie Verrückte, als wäre das ein Kabarett, ein unreifer Spaß, Schülerinnenstreich.
    Sie erzählen dir natürlich nicht alles, Kostek, denn keine von beiden sieht so weit und scharf wie ich, doch haben sie dir fast alles erzählt, was sie wussten und was sie gesehen haben, plötzlich befreundet, schamlos beide, in bestem Einvernehmen.
    Ich höre aber gar nicht mehr zu, obwohl ich bei so einer Geschichte sonst gelauscht hätte wie die Frömmlerin dem Priestergeschwätz.
    Du hörst nicht mehr zu. Schiebst sogar Salomés Hand weg, die gerade den flüssigen Regenbogen injiziert, stehst auf, an deinem

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