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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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Schnee fiel und schmolz auf dem noch warmen Straßenpflaster.
    Er stand in Uniform an der Haustür, seine ganze Gestalt schwankte.
    Du kamst gerade in deinem karierten Schlafanzug in den Flur.
    «Der Kaiser hat abgedankt», sagte Mutter, schlank wie ein Eiszapfen, das Kleid hochgeschnürt bis zum Hals. Sie liebte Baldur damals schon nicht mehr.
    Abgedankt, na und? Vater zog den Gurt am schmutzigen Waffenrock der Ulanen straff. Ein gewöhnlicher Soldatengurt, an der Taille ein hölzernes Halfter im Ledergeschirr, daraus ragte der runde Pistolengriff hervor. Ich wollte diese Pistole so gern sehen. Daneben, in einer Klammer, das Bajonett, und ich hätte gern gefragt: «Vater, wo ist dein Degen?»
    Später wirst du verstehen, dass die Zeit von Säbel und Gewehr vorbei ist; die Zeit von Messer und Revolver hat begonnen.
    Sein Gesicht war bandagiert, ein Apothekergummi hielt die Brille, deren Nickelbügel er nicht hinter die Ohren klemmen konnte, auf den Bandagen fest.
    Er setzte die Mütze auf.
    «Hau ab», sagte Mutter.
    «Ich will mich nur verabschieden», pfiff Vater durch die Bandagen.
    «Na dann verabschiede dich, und raus.»
    Er wollte zu mir kommen, mich drücken, ich hatte Angst und sehnte mich doch nach dieser Umarmung. Sie versperrte ihm den Weg.
    «Sprich deine Abschiedsworte und dann verpiss dich, aber sofort», sagt sie.
    Er sah mich an, auch wenn man seine Augen hinter den Gläsern und zwischen den Bandagen nicht erkennen konnte.
    «Leb wohl, mein Söhnchen. Auf Wiedersehen», flüsterte er mir zu.
    Er hatte Angst vor ihr, hatte sogar Angst, sich an ihr vorbeizudrücken, um mich zu umarmen. Er trug das Eiserne Kreuz Erster Klasse und das Verwundetenabzeichen auf dem Waffenrock, Kleinode der Männlichkeit, und wagte doch nicht, gegen ihren Willen seinen einzigen Sohn zu herzen.
    Er ging, ohne mich umarmt zu haben.
    Und du bist dort geblieben, Kostek, mit ihr in dieser leeren Wohnung, die jetzt noch leerer war als zuvor. Ein paar Monate später wart ihr schon in Warschau, das goldbraune Foto mit dem wahren Gesicht deines Vaters war verschwunden, verschwunden sämtliche Andenken an ihn, sein Rasiermesser, der Rasierpinsel und die Creme Marke Truefitt & Hill, schamlos englisch während des Krieges gegen die Engländer, aber du weißt ja, jeder Deutsche wollte damals Engländer sein, träumte vom Englischsein, floh ins Englischsein. Im Deutschen schlummert eine mitteleuropäische, kontinentale, chtonische Sehnsucht nach der Freiheit des atlantischen, seegeprägten Englischen – doch fehlt ihm der Raum, um englische Wucht zu entwickeln. Der ozeanische Atem fehlt, deshalb krankt die deutsche Tollkühnheit, sobald sie einmal ausbricht, immer an Schuldgefühl. Der deutsche Hass gegen das Slawische oder das Jüdische schwimmt immer in Schuldgefühl, er maskiert nur notdürftig den Hass auf sich selbst: Der Engländer ließ die Buren im Konzentrationslager verhungern, ohne mit der Wimper zu zucken, nicht deshalb, weil er ihnen das Menschliche, sondern weil er ihnen das Englische abspricht. Der Preuße hasst die Polen, weil er weiß, dass er selbst nur ein oberflächlich eingedeutschter Slawe ist. Der Österreicher hasst die Tschechen, weil er selbst nichts anderes ist als ein dünn mit deutschem Zuckerguss glasierter Tscheche.
    Dieser ganze deutsche Selbsthass begann ungefähr zu der Zeit aufzublühen, als dein Vater sein Gesicht verlor. Auch wenn er bestimmt schon früher begonnen hat: Die Hunnenrede Wilhelms, der jetzt, da du dein Leben lebst, Kostek, in einem kleinen Haus in Holland lebt, klein für einen Kaiser. Er wandelt durch den holländischen Garten und ist wie immer: dumm, hochmütig, edel, melancholisch, in gestreiftem Anzug und einem Hemd mit hochstehendem Kragen. Ein erbärmlicher, gescheiterter Monarch wie aus der Operette.
    Oder es hat früher begonnen, unter den in Versailles versammelten, bärtigen Männern, unter blauen und weißen Uniformen, zwischen Kürassen und den erhobenen Spitzen der Säbel, als das Reich proklamiert wurde und das Deutsche plötzlich seine Form verlor: Hatte es sich zuvor im Streben nach der Einheit realisiert, war dies seine natürliche Dynamik gewesen. Aber danach? Was war das Deutsche in diesem Reich?
    Weißt du, was damals mit ihm geschah, mit deinem Vater?
    Du hast ihn dir später oft so vorgestellt, wie du ihn von den Fotografien kanntest. Bayerische Wollstrümpfe und kurze Hosen, Federn auf dem Hut, lustig – lustig? Ein bisschen; und dann doch die Orden, die

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