Morphin
In Kozienice könnten wir nach Dęblin abbiegen, aber die Straße fährt sich gut, deshalb will ich jetzt nicht die Weichselüberquerung versuchen, stattdessen biegen wir nach rechts ab, um wenige Kilometer hinter der Stadt den Weg nach Zwoleń zu nehmen.
Die Straße wird schlagartig schlechter, mehr als vierzig Stundenkilometer sind nicht drin, wir fahren langsam. Dafür wird das Wetter besser, das Dach trocknet, und Dzidzia schlägt vor, es zu öffnen, sogar die Sonne kommt raus, es ist schon später am Tag, also fahren wir mit offenem Dach, fahren durch einen Kiefernwald, und es ist schön.
«Das ist die letzte Woche, nun sei mal nicht so knausrig, Schatz, und schau mich zärtlich an», singt Dzidzia, lacht auf und verstummt gleich wieder.
Hinter dem Wald muss ich bremsen: Die Bahnlinie von Radom nach Brześć, der Übergang zerbombt, die Gleise verbogen, aber wir können vorsichtig rüberfahren, danach Felder, dahinter ist die Fahrbahn wieder befestigt, und wir fahren wieder schneller, bis wir schließlich nach Zwoleń kommen, immer noch mit offenem Dach.
Es ist nach vier, die Sonne geht über der Straße nach Radom unter. In den Vororten, wenn man das so nennen kann, strohgedeckte Holzhütten, Armut, Dreck und Schlamm. Hier geboren, hätte ich nichts als sterben wollen, egal ob Pole oder Jude, Konstanty oder Baldur. Danach ein paar städtische Häuser, aber alles ausgebrannt, nackte Mauern, die schwarzen Stummel der Dachbalken, einsame Schornsteine zwischen den Mauern wie Donjons verlassener Festungen. Wir biegen nach links ab, zum Marktplatz.
Dzidzia sieht sich die Zerstörungen an.
Und ich weide mich an der kürzlichen Feuersbrunst, wittere noch den kürzlich verstummten, heulenden Gesang der Verbrannten, den Fleischgestank der Zerrissenen, doch dich geht das nichts mehr an, Konstanty, du hörst mir nicht mehr zu, und meine Leidenschaften rühren dein Herz nicht mehr.
«Wozu mussten sie das bombardieren?», fragt Dzidzia.
Wozu ein beschissenes Judenstädtchen an der Grenze zwischen Masowien und Kleinpolen zusammenbomben, warum beschissene Häuschen, mickrige Mietskasernen aus Drecksziegeln, mit Scheiße in Scheißfarben gestrichen, bombardieren, wozu – dachte ich, und was sollte ich Dzidzia antworten?
Überleg mal, Konstanty, wozu, du weißt es doch, du erinnerst dich doch, denk nach.
«Wenn ich mich recht entsinne, lagen hier die Stäbe der operativen Gruppen der Armee Preußen. Das Kommando hatte dieser Schweinehund Dąb-Biernacki, er organisierte die Überfahrt. Ein Haufen Militär war hier, das mussten sie bombardieren», sage ich, erstaunt, dass ich das weiß.
Er weiß es. Er. Konstanty Willemann weiß es.
«Ja, musstet ihr wohl», lacht Dzidzia mit der Skrupellosigkeit, zu der nur Frauen fähig sind.
Flache, jüdische Häuser am langgezogenen Marktplatz, ausgebrannte, verrußte Wände, in den Fenstern noch Reste der Holzrahmen, Juden geistern ohne Sinn und Verstand über den Platz, Polen sieht man kaum, Deutsche überhaupt nicht. Überall Müll, Stapel von irgendwelchen Gerätschaften, zerbrochene Fuhrwerke, steil aufragende Deichseln, halbe Räder und Gurte von Pferdegeschirr und ein ausgeweideter Lastwagen mit verräuchertem Fahrerhaus, zivil, bestimmt vom Militär requiriert.
Ich erinnere mich an diese Kleinstadt, ich war hier ein paarmal im Leben durchgekommen. Konstanty Willemann war dort durchgekommen. Hat mit Jacek am Marktplatz zu Mittag gegessen, wir waren mit den Autos nach Lwów unterwegs, hier machten wir Rast. Halt. Vor zwei oder drei Jahren. Da waren keine verbrannten Fuhrwerke oder Lastwagen und die Juden geisterten nicht herum, sondern eilten nach jüdischer Art ihren Geschäften nach. Jetzt sah ich mich um und konnte nicht mehr sagen, in welcher Ruine das Rasthaus gewesen war, ich wusste es nicht mehr und konnte es nicht erkennen.
«Strecken wir mal unsere Glieder?», fragt Dzidzia und lächelt wonnig.
Also steigen wir aus, ich bleibe vor dem Auto stehen, blicke auf die am Marktplatz versammelten Menschen und greife wieder in den Wagen hinein, nach der Maschinenpistole.
Das bereue ich sofort. Ist doch feige, die MP i mitzunehmen, habe ich Angst oder was? Das sind kleinstädtische Juden, viele tragen Peies, in stinkenden Kaftanen, und ich habe Angst, greife nach der MP i, das sind doch schließlich keine Makkabäer, diese Jüdlein hier.
Die Juden schauen neugierig herüber, manche huschen von der Straße. Einer kommt mutig zu uns herüber. Kräftig, im besten
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