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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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getroffen. In einer Gaststätte, in Cafés. Wir tanzten. Manchmal bat ich ihn, Ungarisch für mich zu sprechen. Ich liebte ihn, wenn er Ungarisch sprach. Er war verliebt in mich, er begehrte mich und hat mich trotzdem nicht gewollt, als ich mich angeboten habe.»
    «Ich will das nicht hören. Weshalb erzählst du mir davon?»
    «Ich weiß nicht. Ich liebe Budapest.»
    «Warum?»
    «Was heißt, warum?»
    Dumme Frage, was ist das für eine Konversation, ich frage wie eine Oberschülerin, «und warum, warum», als könne ich keine normale Konversation führen, nur immer «warum, warum».
    Mir war Budapest so gleichgültig wie jede andere Stadt, Kattowitz oder Warschau. Wie kann man denn eine Stadt überhaupt lieben? Häuser, Straßen und Brücken – was gibt es da zu lieben?
    «Und, hat die Stadt deine Liebe erwidert?», frage ich.
    «Nein, nein», antwortet Dzidzia ganz ernst.
    «Wollen wir die Plätze tauschen?»
    «Nein, ich will fahren.»
    Wir fahren eine Weile schweigend.
    «Erinnerst du dich an die Sache des Hauptmanns Pawlikowski? Vor ein paar Jahren», fragt sie plötzlich.
    «Ja. Er war ein Bekannter von Jacek.»
    «Von wem?»
    «Jacek, Freund von mir, Arzt.»
    Pawlikowski war Hauptmann, Flieger. Er hatte den Taxifahrer Stróżyk auf der Straße erschossen, weil der, von ihm als Lump beschimpft, die kühne Erwiderung hatte: «Selbst ein Lump.» Pawlikowski hatte das als Beleidigung der Ehre und Uniform eines polnischen Offiziers betrachtet, die Pistole gezogen und den Taxifahrer auf der Stelle erschossen. Pawlikowski wurde zu drei Jahren verurteilt, hat sie abgesessen und kam frei.
    «Früher einmal war ich so wie er.»
    «Du hast einen Taxifahrer erschossen?», lache ich, dumm, dumm.
    «War nicht nötig.»
    Und wieder, Stille, kilometerlang Stille.
    Ich sehe sie von der Seite an, ihre Nase, ihr helles Haar. Das Hütchen und das braune, teure Kostüm, die Aufschläge des Jacketts, mit gelbem Atlas verbrämt, die Hände am Lenkrad, die Nase. Und die Augen auf die Fahrbahn gerichtet.
    Kein Schnee mehr, auch kein Regen, nur triste Wolken. Und die Slowakei, seltsame Sache, früher hat nie jemand von der Slowakei gehört, und jetzt ist sie da, ein unabhängiges Land, natürlich nur vorgeblich unabhängig. Seltsam, dass Länder geboren werden und sterben wie Menschen, denn wo ist heute die unabhängige Ukraine, aber früher einmal hat es sie gegeben?
    Hinter Bardejov nackte Armut. Ein paar slowakische Hütten, dann ein Zigeunerlager, dreckige, verlauste Kinder, dreckige zerlumpte Menschen. Die Kinder sehen mager und hungrig aus, Dzidzia hält natürlich gleich wieder an, kurbelt die Scheibe runter, die Kinder kommen angerannt wie Hunde in den Hof des Fleischers, wenn sie das Gitter aufgehen hören.
    «Als würden wir durch Afrika oder Indien fahren», sage ich.
    «Es sind irgendwo doch auch Inder», antwortet Dzidzia.
    Die Kinder drängeln sich vor dem Fenster, schweigend, dunkle Haut, schwarze Augen und Lumpen im düsteren Licht. Sie strecken nicht die Hände aus, sie gucken, warten, und Dzidzia sieht sie an.
    «Das sind Menschen», sagt sie. «Stimmt’s, Konstanty?»
    «Sicher.» Ich zucke mit den Schultern. «Ziegen ja wohl nicht, auch keine Blumen.»
    «Wenn das Menschen sind, und wir sind Menschen, und Säuglinge sind Menschen und auch Russen und irgendwelche afrikanischen Kannibalen, was heißt dann Mensch, Konstanty?»
    Sie spricht, ohne mich anzusehen, spricht mit dem Blick auf die Zigeunerkinder. Ich weiß nicht, ob sie mich auf den Arm nehmen will, deshalb prüfe ich erst einmal, wie ich in der grauen Jacke und unter der grauen Mütze mit schwarzem Schirm aussehe. Ich klappe den Spiegel aus dem Sonnenschutz heraus.
    Ich sehe aus wie ein Deutscher.
    «Hitler steckt sie in die Lager. Wie die Juden», sagt Dzidzia.
    «Die Juden wandern jetzt von Deutschland angeblich nach Palästina aus», bemerke ich. «Oder nach Amerika.»
    Die Zigeunerkinder wollen plötzlich nicht mehr nur reglos abwarten, es kommt Bewegung in die lockigen Köpfe, ein Kind wird nach vorn geschubst.
    Ein Kind wie die anderen, mager und großäugig, aber anstelle der Wange läuft eine große, trockene Wunde vom Ohr bis zur Nasenwurzel, vom Auge bis zum Unterkiefer. Ein Loch, als hätte jemand mit dem Messer das Gewebe weggeschnitten und das Blut trocknen lassen, man sieht die Schichten wie bei einem anatomischen Präparat: Muskeln, rötliche Knochen und ein paar schiefe gelbe Zähne. Und zwischen ihnen die lebendige Zunge und der Rest

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