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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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Motorrad mit Anhänger, im Sattel ein Deutscher, gummierter Mantel, Helm, die blecherne Gendarmenkoppel am Hals, darauf gelblich grün das Wort «Feldgendarmerie». Er winkt mit dem blinkenden Lutscher wie ein Polizist, ist er ja schließlich auch, will die Papiere sehen, aber ich zeige meine GFP -Zauberplakette, und das genügt, weiter geht’s die Straße nach Tarnów.
    Berge.
    Vor uns Berge, um uns Berge.
    Als ich klein war und wir einmal nach Zakopane fuhren, habe ich zum Ersten ein Gebirge gesehen und gedacht, die Berge drohten Gott, sie widersetzten sich ihm, piksten ihn. Wir fuhren mit dem Auto zum Morskie Oko, Mama hatte einen gewaltigen, offenen Cadillac und einen ebenfalls gewaltigen Chauffeur.
    Die Bergler musterten uns misstrauisch, wie die finsteren Gesichter von Wilden.
    «Ich werde jetzt fahren, du schläfst», sagt Dzidzia von der Rückbank.
    «Ich hab doch Isophan genommen.»
    «Ich auch. Ruh dich aus, sonst schläfst du beim Fahren ein und baust einen Unfall.»
    Dichter Schnee fällt, ich halte am Fahrbahnrand und weiß schon, dass wir durch Tarnów durch sind, über den Marktplatz sind wir gefahren. Jetzt fällt mir ein, dass auf dem Marktplatz vor dem Rathaus Armeelastwagen und Autos standen, viel Militär, und wir fuhren einfach vorbei.
    Ich steige aus. Dzidzia setzt sich ans Steuer. Dzidzia, aber ich habe einen Moment lang den Eindruck, das sei Iga, es könnte genauso gut Iga sein wie Dzidzia, wie Salomé, wie Helena, alle verflucht.
    «Schlaf», sagt sie. «Ich wecke dich an der slowakischen Grenze.»
    Sie fährt los. Ich schließe die Augen.
    «Wo ist Jureczek?», schreie ich.
    Aber ich öffne den Mund lautlos, schreie ohne Worte, der Schlaf hat mich stumm gemacht.
    Jureczek steht am Straßenrand. So klein, in kurzen Höschen und Wollstrümpfen bis zum Knie, einem Mäntelchen und einer Schirmmütze, wie Studenten sie tragen, nur eben für einen kleinen Jungen. Jureczek schaut den im Schneetreiben verschwindenden Hecklichtern des Chevrolets nach. Jureczek ist allein. Im Oktoberschnee. Er weint. Er wird durch den Schnee stapfen, dann wird er hinfallen, er ist erst drei Jahre alt, vier Jahre, wie alt ist Jureczek?
    Oder er wird bösen Menschen begegnen, es gibt gar keine anderen, er wird bösen Menschen begegnen, und sie werden ihn mit zu sich nach Hause nehmen, dort wird er das Leben eines Findelkindes leben.
    Jureczek ist mit Hela in Warschau, in der Wohnung des alten Peszkowski in Podwale, er sitzt auf den Knien von Opalein, Opalein träufelt ihm sein Gift ins Ohr, Tropfen für Tropfen wie Speichel sickert Peszkowskis Gift in das Ohr meines Jureczek: Heilig Heimat unserer Väter, Land von heldenhaften Tugendtätern, bist getränkt von deiner Söhne Opferblut. Und nicht umsonst, du edles Ahnenerbe, hieß man dich in frühster Glut auch Heilig Erde, war Gott doch dir am ehsten gut.
    «Wo wohnst du?»
    «Unter meinesgleichen», sagt der infizierte Jureczek, irre vom Gift.
    «In welchem Land?»
    «Auf Polens Boden.»
    «Was ist dir der Boden?»
    «Mein Vaterland.»
    «Wie errungen?»
    «Mit Blut und Narben.»
    «Was bist du ihm?»
    «Ein dankbar Kind.»
    «Was schuldest du ihm?»
    «Mein Leben ihm zu geben.»
    Das Leben zu geben. Peszkowski will dem Land das Leben meines Jureczek opfern, und sein eigenes würde er auch gern opfern und meines sowieso, Helas Leben auch, warum nicht.
    Lieber sähe ich Jureczek hier im Schnee als auf Peszkowskis Knien.
    Vom Marktplatz in Tarnów fährt ein Lkw Opel Blitz ab, auf der Ladefläche sitzen Panzerschützen der zweiten Panzerdivision, zweites Schützenregiment. Der Lastwagen fährt nach Süden, folgt den Spuren unseres Chevrolet, fährt die Zwölf nach Grabów, in Tuchów kommt er ins Tal der Biała und fährt, vorbei an Tuchów und Zagrody und Dąbrówka Tuchowska, aber für die Panzerschützen haben diese Orte keine Namen, sie fahren einfach auf einer Straße, durchs ehemalige Südpolen, fahren in einem Land, dass noch keine Gestalt und keinen Namen hat, denn Polen gibt es nicht mehr, es ist nicht das Reich und auch noch nichts anderes. Es ist besetztes Gebiet, deshalb fahren sie, und im Scheinwerferlicht unseres Blitz scheint mein Junge am Randstreifen auf: kurze Hose, Wollstrümpfe und nackte Knie, ein zweireihiges Jäckchen, wie ein Kind aus begütertem Hause, ein Stadtkind, der Lastwagen hält an, sie heben den Jungen hoch, fragen ihn auf Deutsch aus, er antwortet nicht, doch Gefreiter Hube stammt aus der Krajna, ist in Złotów geboren und lernte als

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