Morphin
Sachen», sagt Dzidzia und öffnet ihre Tasche. «Trink was.»
Sie reicht mir einen Flachmann. Ich nehme einen Schluck. Cognac. Ich mag zwar keinen Cognac, aber Alkohol mag ich, deshalb genieße ich die knapp fünfzig Prozent und ignoriere den Rest.
Nachdem wir die ausgedehnten, nicht sehr hohen Hügel verlassen haben, führt die Straße geradewegs auf eine Inselkette von verwegen herausgemeißelten Bergen zu. Auf einem davon blinken die weißen Ruinen eines gar nicht so kleinen Schlosses.
Solche haben meine Rittervorfahren erobert. Der schwarze Wildschweinkopf auf Gold und auf dem Helm zwei Straußenfedern, schwarz und golden. Ich bin Strachwitz. Ich bin schlesischer Uradel. Ich bin kein Strachwitz. Ich bin Konstanty Willemann. Ich habe keine Rittervorfahren, ich ward von meiner Mutter unbefleckt empfangen.
Der schwarze Keilerkopf.
Ich umfahre den Hügel mit dem Schloss, das auf der Karte Kapusiansky heißt, und plötzlich kommen wir aus den Höhen heraus auf weite Wiesen und leicht gewellte Felder, aus denen diese Bergkette regelrecht hochschießen muss, wenn man sie von Süden nach Norden, aus der Gegenrichtung, erreicht.
Ich trinke mehr. Dzidzia bettet sich unter ihrem Pelz auf die Rückbank. Mir gefällt es in der Slowakei nicht. In der Tschechoslowakei hat es mir besser gefallen. Die Tschechoslowakei war das moderne Zentrum Europas, die Slowakei ist ein balkanisches Loch.
Vor einem luxuriösen Restaurant sitzt ein Stadtstreicher am Rinnstein, ruht aus und schaut sich die Gesellschaft an, die gerade aus dem Speisesaal wankt, schöne Damen, Schmuck und elegante Kleider, schöne Herren, Fracks und Pelerinen, Lackschuhe und Zylinder, bitt recht schön, Verzeihung, aber nicht doch, ja, bitte, und der Vagabund schaut und kaut an seinem Brot, er ist ein Niemand, und wie schaut er?
Ich bin ein Niemand, aber er ist auf andere Weise ein Niemand als ich. Er ist ein Niemand, weil er niedrig ist, ein Gestrüpp aus Lumpen, Fetzen, Gestank, Dreck und Barthaaren, die anderen sind glattrasiert, mit Brillantine geschmiert, gebürstet und glänzend, die schmalen Brusthemden weiß, schneeweiß gestärkt und Perlmuttknöpfe in goldener Fassung, er aber ist ein Niemand, niedrig, säuft zum erbettelten Brot kaltes Wasser aus einer Flasche, die mit einem Lappen oder einem Stock zugekorkt ist, nehme ich jedenfalls an, denn ich bin längst vorbei, und er existiert nicht mehr für mich, und die anderen trinken kristallklaren Wodka zum Eierkuchen mit Kaviar.
Pawlikowski hat den Niemand Taxifahrer Stróżyk erschossen, weil jener Niemand die Ehre der Uniform eines polnischen Offiziers beleidigt hat. Der Offizier mag privat keiner Fliege etwas zuleide tun, für einen Taxifahrer, den Ernährer einer Familie, Vater von Kindern oder auch Junggeselle, Vater unehelicher Bälger oder gar impotent, oder den Ehemann irgendeiner Frau – für solch einen Niemand hätte er sich mit seinem Leben eingesetzt, aber dennoch hat er auf diesen Niemand geschossen, weil der Niemand seine Ehre verletzt hat, und es gibt nichts Höheres als die Ehre, deshalb hat Hofmokl-Ostrowski ihm für diese Erschießung drei Jahre Gefängnis verschafft, nicht mehr, drei Jahre, unter uns.
Ich aber bin ein Niemand anders.
Ich stehe nicht niedrig: Ich stehe hoch. Ich trage eine Uniform und könnte ebenfalls so einen Stadtstreicher oder einen Taxifahrer-Niemand wie Stróżyk erschießen, wenn er mich als Lump bezeichnet. Jetzt könnte ich sogar Pawlikowski erschießen, aber darum kümmert sich bestimmt schon wer anders. Ich habe einen Frack. Nicht bei mir, aber im Schokoladenhaus habe ich einen Frack. Hab ihn nicht mitgenommen, schließlich ist Krieg, was soll mir da ein Frack. Nur einen Smoking habe ich mit. Hat Dzidzia gesagt, ich solle einen Frack mitnehmen?
Ich muss anhalten, die Maschinenpistole verstecken. Eine Waffe am Gürtel, kein Problem, ein Symbol von Freiheit und Aggression, aber der perforierte Lauf einer MP i ist etwas anderes, eines Offiziers beinahe unwürdig, also halte ich an, Dzidzia schaut nicht, stopfe die MP i hinter unsere Koffer und Taschen, tief hinein, wir brauchen dich nicht mehr, liebes Gewehr, jedenfalls für den Augenblick.
Ein Schlückchen Cognac. Ich achte nicht mehr auf die Landschaft. Die Landschaft interessiert mich nicht.
Weiter. Zur Grenze. Nach Ungarn.
Cognac. Die Grenze. Putzig. Die slowakisch-ungarische Grenze. Das ist keine Grenze jener Art, wie sie Deutsche und Russen bei ihrer Begegnung mitten in Polen aufgebaut haben.
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