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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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auch lebendig, pulsierend, aber nicht blutend, nur kleine, helle Blutfäden am geschrumpften Zahnfleisch.
    «Sie schieben sie vor, weil sie fürchten, wir gucken nur und geben kein Geld», erklärt Dzidzia. «Manchmal verstehe ich Hitler. Dass er Tiere mag und Menschen nicht.»
    Sie wirft ihnen ein paar Münzen hin. Die Zigeunergören stürzen sich gierig darauf. Ich schaue wieder in den Spiegel. Mein Gesicht, gesund, und meins. Das Gesicht des Krüppels, das vernarbte des Vater, meins. Verwundetes, offenes Gesicht, Gesicht ohne Gesicht, das des Kindes, meins. Dzidzia fährt weiter, Hertnik, Osikov, Raslavice, Slovacek, und dann Uhorske, die Straße in gutem Zustand, wir fahren schnell, Dzidzia lenkt kräftig, aggressiv.
    «Was hatte dieses Kind?», frage ich.
    «Noma, Wangenbrand. Eine Krankheit.»
    «Krankheit? Keine Wunde?»
    «Nein. Eine Krankheit.»
    «Wovon?»
    «Unterernährung und Dreck.»
    Die Straße führt durch ein enges Tal zwischen halb bewaldeten, halb von Weiden überzogenen Anhöhen. Ich schaue auf die Karte.
    «Bis zur Grenze ist es nicht mehr weit. Von Prešov ungefähr fünfzehn, zwanzig Kilometer. Nach Kassa etwa vierzig.»
    «Dieser Ungar, von dem ich dir erzählt habe, in den ich verliebt war, kam aus Kassa, aber nach dem Vertrag von Trianon ging er weg. Er hasste die Tschechen, denn er machte sie für diesen Raub verantwortlich, die Slowaken waren ihm egal, die hielt er für ein beschränktes Völkchen, das man nicht für seine Untaten verantwortlich machen kann.»
    «Wie kommst du jetzt wieder auf ihn, Dzidzia?»
    «Weil ich mich frage, ob die Tschechen Menschen sind. Ob diese schmutzigen Zigeunerkinder Menschen sind. Ob wir Menschen sind. Ob die Juden Menschen sind. Ob die Deutschen Menschen sind. Ob es überhaupt Menschen gibt.»
    Ich schweige. Sie ist viel klüger als ich und älter, was bleibt mir, als zu schweigen? Ich mache ein gelangweiltes Gesicht, das tat ich immer, wenn ein Gespräch in Gesellschaft mich überforderte. Die Masche hat mir den Ruf eines ungewöhnlich intelligenten und viel herumgekommenen Menschen eingebracht.
    «Ich glaube, es gibt überhaupt keine Menschen. Wir haben eine Idee von Menschheit ausgedacht, und manche leben sogar so, als gäbe es so etwas, aber das gibt es nicht, niemand wird ihm gerecht. Die Menschen sind nach der allgemein anerkannten Definition gar keine Menschen; nach dieser Definition sind sie nur Tiere.»
    «Pass auf!»
    Dzidzia tritt auf die Bremse, der Chevrolet gräbt sich mit den Reifen in den Asphalt, aber wir fliegen weiter nach vorn, nur langsamer, auf die unausweichliche Schafsherde zu. Ein Tier streifen wir ganz am Ende des Bremsmanövers sogar, aber nicht sehr heftig, es fällt hin und rappelt sich wieder auf. Der grimmige Hirte zieht entschuldigend den Hut und macht sich dann eilig daran, seine Schafe von der Straße zu treiben, damit die Herrschaften vorbeifahren können.
    Die Herrschaften fahren vorbei.
    «Wir tauschen die Plätze», sage ich. «Du fährst mir zu gefährlich.»
    Ich sage das aber irgendwie anders. Ich weiß nicht, wie anders, aber so, dass Dzidzia das Auto anhält und ohne Grimassen wartet, bis ich um den Wagen herumgegangen bin, damit sie auf den rechten Sitz rutschen kann. Dieses weibliche Privileg bekommt ihr nicht gut, sie reißt sich die Strumpfhose an der Kimme der Maschinenpistole auf.
    Ich setze mich ans Lenkrad. Ausgeschlafen und unausgeschlafen, frisch und schmutzig, nüchtern und benommen zugleich.
    «Was machen wir an der Grenze?», frage ich. «Das haben wir noch nicht überlegt.»
    «Du sagst, ich bin deine Nutte, und sie sollen einem Verbündeten keinen Ärger machen. Ich bin deine Kriegsbeute. Kleine Polackin, aus dem Krieg mitgebracht, damit du in Budapest was zum Ficken hast.»
    «Sie sehen dich an und wissen, dass das nicht stimmt», antworte ich sofort, intelligent und naiv, treffend und völlig daneben.
    Dzidzia weiß das zu schätzen. Nicht so sehr die Antwort als die Tatsache, dass ich nicht plötzlich ausraste, nicht dümmlich protestiere, schließlich auch, dass ich schlagfertig bin, von selbst versteht sich das nicht.
    Ich fahre. Gut, wieder selbst zu fahren. Auf der Rückbank sitzt man nicht so angenehm. Die Fahrbahn ist ordentlich, der Motor läuft. Ich bin Konstanty Willemann, ich mag Autos und mag keine Pferde. Ich habe hohe Stiefel mit Sporen an, die Sporen stören ein wenig beim Fahren.
    Ich bin Baldur von Strachwitz und habe eine Narbe anstelle eines Gesichts.
    «Ich habe viele gute

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