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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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Drosselklappe, der linke auf dem Schalter fürs Fernlicht, wenig Verkehr, fast gar keiner, im Licht das Schild: Harsány.
    Und dann plötzlich Budapest, und alles ist anders.
    Nicht einmal plötzlich, aber anders: Gar nicht plötzlich, denn zuerst kommen die Felder, und zwischen den Feldern taucht die Vorstadt auf, ein Bahnhof, mehr Vorstadt, kleine Landhäuser, dann schon eher städtische, man sieht nur das, worauf das Licht der Straßenlaternen fällt, also nicht viel, und plötzlich die Stadt.
    Rechter Hand Pest, der XIV . Bezirk, von dem ich nichts weiß, weil ich nie in Budapest war, was hätte ich in Budapest verloren? Wien ja, Wien natürlich, Berlin Paris London Rom, aber Budapest liegt doch am Rand, es gibt hier alles, aber trotzdem, nein. Ich bin nie hier gewesen und fertig, muss mich nicht rechtfertigen, auch wenn jetzt zur rechten plötzlich der XIV . Bezirk von Pest aufsteigt und die Stadtbahn H. É. V., so heißt sie an den Haltestellen, also wie unsere EKD , Gödöllő H. É. V., und darunter Mietshäuser und überall Laternen, hellleuchtende Laternen, warum sind die Mietshäuser hier größer als die in Warschau? Weil dies eine Hauptstadt eines Imperiums war, das nicht mehr existiert, nur die Hauptstadt gibt sich weiterhin imperial, was kann da mein Warschau, nichts, eine provinzielle, jüdische, russische Stadt, die irgendwann mit einem Mal zur Hauptstadt erklärt wurde, aus irgendeinem Grunde, weil sie groß genug war? Groß vielleicht, aber Budapest ist größer, und die Mietshäuser sind einen Stock höher oder noch mehr, die Straßen breiter und schöner, das ist Pest, Buda ist auf der anderen Seite.
    Auch sonst ist alles anders, alles nicht so, wie es sein soll; denn es ist Nacht, und zwar Wochennacht, von Dienstag auf Mittwoch, und trotzdem hell.
    Keine Verdunkelung, keine von Bomben lädierten Laternen, dafür glatte Straßenpflaster, darauf sind Autos und Straßenbahnen unterwegs, andere als bei uns, und Busse, andere als bei uns. Sie haben große Lichter und starren mich damit an, und auf der Maske des Kühlergrills wölbt sich ein Strauß von glänzenden Chromstäben, öffnet sich wie eine Lyra oder eine straff gebundene Garbe. Die Straßenbahnen vollgestopft mit Menschen. Und Taxis, darin lachende Damen, gewöhnliche Damen und professionelle, die dem Taxifahrer selbst die Adresse geben. Aus den Weinstuben schwanken Berauschte hinaus ins Laternenlicht, denn noch ist nicht Winter, bis zum Winter ist es noch hin und bis Advent, noch ist Oktober, ein guter Weinmonat, der beste Monat zum Weintrinken, und ich fahre langsam, halte nach den Straßenschildern Ausschau, doch wozu, wozu?
    Bei uns in Warschau herrscht Schwärze und Finsternis, wenn man nachts unterwegs ist, und in dieser Dunkelheit trifft man entweder auf eine deutsche Streife oder einen jüdischen Dieb, vielleicht auf einen polnischen oder von anderswoher, sonst ist da nichts, weder nächtliche Straßenbahnen noch Weinstuben, aus denen Berauschte schwanken, selbst wenn welche geöffnet haben, huscht man ängstlich dort heraus, statt fröhlich zu schwanken, so wie ich mit Jacek, was bin ich mit dem geliebten Jacek herumgeschwankt in Warschau, aber jetzt ist aus mit dem Schwanken. Ich bin Soldat geworden, erst so einer, dann so einer, und Jacek ist in Warschau geblieben in einer trockenen, zehrenden Verzweiflung, und aus dieser Verzweiflung wird Iga ihn nicht herausholen, das schafft sie nicht, Jacek wird bestimmt wieder auf dem Bett liegen, an die schwarze Zimmerdecke starren, tagsüber wird er herumsitzen und ins helle Fenster starren, auf die Straße, wird nichts sehen, das er gern sehen würde, und selbst wenn er sich am Ende überwindet, wäscht, rasiert, anzieht und ins Spital geht, was soll’s, es hilft nicht, da sind jene, denen er gern helfen möchte, denen er helfen muss und nicht kann, und was bleibt ihm dann?
    Ich nehme noch einen Schluck Cognac. Kerepesi út, das heißt wohl Kerepesistraße, was immer Kerepesi sein mag, zur Rechten die ungarische EKD und Mietshäuser, links irgendwelche Felder, Rennbahnen augenscheinlich, dann wieder die Bahn, sie kreuzt die Straße, die mich zum Baross tér führt, einem Platz mit einem großen Bahnhof, Keleti p.u., größer als der in Warschau, ich fahre weiter, nach unten, bergab – so kommt es mir vor –, die Rákóczistraße.
    Eine Stadt, eine richtige, lebendige Stadt, eine Hauptstadt des Imperiums. Kutschen. Taxis. Hell. Neonlicht. Die Rákóczistraße breit und schön.

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