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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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das getan, sie hätte es anders, feiner machen können.
    Gleich kommt Kassa, schon sind wir da. Ich will nicht mehr schauen, will mir Kassa nicht ansehen, Kassa interessiert mich nicht, ich bin doch kein Tourist. Kassa. Mietshäuser und Kirchen.
    Ich bin Baldur von Strachwitz und fliehe gerade aus Warschau.
    Vor wem? Wozu? Was heißt denn fliehen, warum fliehe ich, was ist mit mir los, wo ist mein Leben?
    Auf den flandrischen Feldern, dort wo mein Schwanz und mein Gesicht geblieben sind, genau dort, und ich denke sogar auf Polnisch, nicht auf Wasserpolnisch, und dabei könnte ich auch auf Wasserpolnisch denken, denn ich habe dieses seltsame, heisere Volapük von der Kinderfrau gelernt, die mich gehütet hat, meine Mutter hat mich nie gehütet, und die Kinderfrau sprach Wasserpolnisch.
    In Kassa keine Spur mehr vom ehemaligen Košice. Statt des wohlwollend verständlichen Tschechoslowakisch nur das unzugängliche ungarische Lallen, wie aus einer anderen Welt. Welches Wunder hat diese schlitzäugigen Steppenwilden vor tausend Jahren zu Europäern gemacht, mit dieser Sprache?
    Die schlitzäugigen Wilden haben sich im slawischen und walachischen Substrat spurlos aufgelöst wie ein Tropfen Wein im Meer, die Steppenkultur ist verschwunden, sie haben ihre Filzjurten aufgegeben und sich Schlösser gebaut, und als sie dreihundert Jahre nach ihrer mythischen Landnahme von den Mongolen überfallen wurden, da hatten diese Nachfahren der Steppenreiter keine Ahnung mehr, wie man leichtpferdig kämpft, sie unterlagen den Mongolen auf sehr ritterliche und europäische Art, mit Lanzen und auf schweren Lastpferden, gemeinsam mit meinen Großvätern, die sich alle bei Liegnitz von den Mongolen töten ließen, bis auf einen, dem die Strachwitz entsprossen.
    Die Wilden also haben sich aufgelöst mitsamt ihrer Säbel- und Bogenkultur; warum aber hat die Sprache überdauert, warum die Steppenlegenden und die asiatische Steppenmusik in ihrem Bauerntum, warum? Warum passiert etwas so und nicht anders? Warum findet sich auf der Krim keine Spur mehr von den Goten, während die Magyaren geblieben sind? Warum gibt es in Schlesien keine Spur von den Kelten?
    «Wenn ich deinen hellen Teint sehe, das blonde und etwas rötliche Haar, den rötlichen Bart und die weiße Haut mit den Sommersprossen, dann glaube ich, du bist ein Kelte, mein Lieber», sagt meine Mutter, die Weiße Adlerin. «Du bist ein Kelte, ob du willst oder nicht.»
    Der Wagen windet sich durch die schmalen Straßen von Kassa, ein mitteleuropäisches Städtchen wie jedes andere, deshalb ganz anders als das asiatische Warschau, anders, andere Mietshäuser, andere Kirchen, Dzidzia schläft, und ich entdecke am Ende den Wegweiser nach Miskolc, nach Budapest.
    Das Gesicht meines Vaters. Wir fahren die Straße nach Miskolc, und die Landschaft wird immer eintöniger, langsam werden die Berge kleiner, wir haben die Karpaten überquert. Barcá. Eniycke. Seltsame Namen.
    Die Karpaten zu überschreiten – Abaújszina. Schwarze, düstere Toponymie. So viele sind in den Karpaten gescheitert, sind irgendwo auf den verschneiten Pässen steckengeblieben, doch das war früher, ich schaffe es. Und fahre. Hidasnémeti. Ich fahre neben einem schweren, von Ochsen gezogenen Wagen mit Vollreifen … oben auf dem Wagen schläft eine Frau, meine Gefährtin. Forró. Auf dem Bock der Kutscher, ein Knecht, ein Niemand-Mensch, an den man nie wieder denkt, ein Mensch ohne Namen. Und ich daneben, auf einem kleinen Pferd, im tiefen Sattel, angetan mit einem goldbestickten, prachtvollen Gewand, auf dem Haupt eine Mütze aus Wolfspelz, ich habe einen langen, hellen Bart, einen blonden Schnurrbart und zum Zopf geflochtenes Haar. Csabád.
    Es ist immer noch hell, als ich die wichtige Kreuzung der Heerstraßen erreiche: Nach links führt die schlechtere Straße nach Nyíregyháza, das heißt in Richtung Puszta, Alföld.
    Insel der euroasiatischen Steppe, mitten im grünen Ozean des Archipels Transsylvanien. Als die Magyaren die schrecklichen Gebirge Siebenbürgens überschritten hatten, mussten sie sich wie zu Hause fühlen, wie zu Hause. Vielleicht haben sie sich deshalb hier niedergelassen, obwohl sie Raubzüge von Dänemark bis zu den Pyrenäen unternahmen?
    Warum, warum denke ich daran, als ich nach rechts abbiege, nach Miskolc, Miskolc ist nicht mehr weit, fünfzehn Kilometer, ein Streifen Feld, ein Streifen Wald, Landschaft bar jeder Exotik, das Gras am Straßenrand wie überall, die Bäume wie überall, der

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