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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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Stattdessen beschimpfte er sie auf eine des Gentlemans unwürdige Art, verließ das Zimmer und schlug krachend die Tür zu. Herr Rochacewicz erfuhr das von Frau Rochacewicz, die in Ermangelung von Nachkommen ganze Tage mit der heimlichen Observierung der Gäste beschäftigt war. Und er nahm die Schrotflinte von der Wand.
    Da er keine Patronen fand, griff er zum Feuerhaken, Frau Rochacewicz jedoch, nach der Verabreichung von Riechsalz wieder zu sich gekommen, legte sich wie der Abgeordnete Rejtan in die Tür des ehelichen Schlafgemachs und verkündete, wenn Rochacewicz Płeszczyński umbringe und ins Gefängnis wandere, dann lasse sie sich scheiden und fahre nach Wilna, um es dort mit den Erstbesten zu treiben, egal ob mit Christen, Juden oder, Gott erbarm, Journalisten. Rochacewicz gab danach klein bei, er neigte an sich nicht zur Gewalttätigkeit, war außerdem feige und nutzte gern diese Gelegenheit zum Rückzug, die seine Frau ihm verschaffte.
    Frau Rochacewicz kümmerte sich nun selbst um die Sache. Am anderen Morgen, nach einem eiskalten Ultimatum, reiste der Warschauer Bonvivant Płeszczyński ab, ohne Abschied, aber mit Freund.
    Sie fanden zurück in ihr Leben, auf ihre Bahnen, die sie in die östlichen Wälder und unter die Warschauer Straßenbahn führen sollten. Aber soll ich erzählen, wie Płeszczyński in einem Wald mitten im polnisch-russischen Niemandsland ein Ende finden wird, Kornicki auf den Schienen in der Puławska, gar nicht weit von deinem Schokoladenhaus, das weiterhin steht, auch wenn die Stadt ringsum wie vom Erdboden verschluckt scheint? In all diesen Geschichten liegt eine Wahrheit, aber glaubst du, Kostek, mich interessiert Wahrheit?
    Wir blieben also allein im Sommerlager: Iga und ich, Fräulein Alicja mit ihrer Verzweiflung, Jacek mit seiner Sehnsucht nach der unerreichbaren Warschauerin, die farblosen Posener Beamten und die uns ständig stumm abtastenden, wachsamen Augen der Frau Rochacewicz.
    Hätte sie also einen Blick für mich gehabt, bevor Płeszczyński und Kornicki abgereist waren? Gewiss nicht, auch wenn sie mich vielleicht interessanter fand. Aber das ist die Macht der Umgangsformen, die nicht daher rührt, dass wir an sie glauben, sondern daher, dass sie wahrhaftig sind, eine Substanz des Lebens oder wenigstens – ohne hier philosophisch werden zu wollen – dieser Substanz auf eine Art und Weise entsprechen wie die Buchstaben des Alphabets den Lauten.
    Also habt ihr euch umkreist, weil ihr musstet: Iga, in den Ferien bei ihrer Tante, denn das war Frau Rochacewicz, und ihr beide, Jacek und du.
    Die Stärkeren waren fort. Einer der Posener Beamten versuchte sich in ungeschicktem Getändel, umso steifer, als die unansehnliche Ehefrau immer in der Nähe war. Er war also schwächer als du, Kostek. Könnte sich eine blühende Achtzehnjährige einem Beamten von neunundfünfzig Jahren hingeben, Sohn von irgendwem, der Kinder hat – aber von ihm werde ich dir auch nichts erzählen, warum sollte ich, Kostek, ist doch sein Leben so bedeutungslos wie jedes andere.
    Sie hätte sich ihm hingeben können, aber nicht in solch einer Situation, nicht als Ferienflirt dieses dicken Büroangestellten, wenn gleich daneben Jungs waren, die vielleicht noch nicht schön, aber jung und biegsam und mit der Verheißung künftiger Schönheit ausgezeichnet waren, denn das Materielle spielte hier keine Rolle, es war Sommer, die Luft brannte und das Blut.
    Sie hätte sich natürlich auch niemandem hingeben können, aber dagegen arbeitete der Ehrgeiz der Tante Rochacewicz, die ein elementares Gesetz nicht verstand – je mehr sie verbat, kontrollierte und observierte, desto mehr trieb sie Iga zu dem, wovor sie sie eigentlich bewahren wollte.
    Und sie nicht bewahrte. Iga bemerkte als Erste an dir, was dir selbst nicht auffiel, Kostek. Weißt du noch?
    Sie bemerkte an dir den Mann, sie als Erste. Nicht im Sinne der Reife, dazu fehlte dir noch sehr viel und fehlt dir nach wie vor, aber im Sinne des Geschlechts. Vorher hattest du kein Geschlecht, ihr Blick hat es dir gegeben.
    Wer warst du vorher gewesen? Ein Kind warst du, ich war schon damals mit dir, dem einsamen, stillen Gymnasiasten, der sich von der Schule durch die Warschauer Straßen nach Hause schleppte, ihr wohntet damals schon in dieser Villa in Żoliborz, in den zwanziger Jahren gekauft. Du bist als Junge ganz in Büchern versunken, die zu unernst für dein Alter waren, hattest unernste Träume, von Schiffsreisen und Expeditionen in die

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