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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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deinen Schultern hinter dir geht. Du weißt nichts von dem Starschina, Lawr hieß er, aber auf der Insel nimmt er einen neuen, einen Büßernamen an: Awksentij. Und du weißt nichts von dem Himmel und nichts von der Hölle oder wohin immer er geraten ist, denn nach so vielen Jahren der Buße vermag er dort hinzukommen, wo sein letzter Gedanke ihn hinlenkt, zu Gott, den es nicht gibt, oder in die Hölle, die es gibt.
    Also denk jetzt zurück, denk zurück an das Sommerlager vor Jahren, ich erlaube es dir, deine graue Schattengeliebte.
    Ich denke zurück an das Sommerlager vor Jahren, als ich Iga kennenlernte. Jacek und ich fanden rasch zueinander und hätten uns sogar mit den Herren Junggesellen anfreunden können, wenn sie uns nicht deutliche Verachtung bezeigt und wie Halbstarke behandelt hätten. Rostański entwickelte bald Vertrauen zu mir, sodass er mir von seinen Herzensangelegenheiten erzählte, und seine unglückliche Liebe wurde das Hauptthema unserer Gespräche.
    Zwei Tage nach unserer Ankunft trat Iga in den Frühstücksraum: Sie war achtzehn, so alt wie ich, und keine berauschende Schönheit. Ein Durchschnittsgesicht, strohblondes Haar, eine zierliche Figur im bescheidenen Sommerkleidchen.
    Aber dennoch veränderte das Erscheinen einer jungen Frau unter uns die gesellige Situation grundlegend. Jacek warf nur einen Blick auf Iga und war sofort wieder bei seiner Sehnsucht nach der unerreichbaren Warschauerin. Fräulein Alicja muss Iga auf den ersten Blick gehasst haben, denn ihre Gegenwart machte das halbherzige Hofieren der beiden Kavaliere bei ihr selbst obsolet: Sie in Gegenwart von Igas strahlender Jugend zu hofieren, wäre ein Unding, gesellschaftlich und überhaupt.
    Ich betrachtete Iga mit viel größerer Aufmerksamkeit als die blasierten Kavaliere aus Warschau, bemerkte aber schnell ihre Blicke und verstand, dass ich nicht die geringste Chance hatte. Gleichwohl gebot es der Ehrgeiz, bei diesem Rennen anzutreten, so zu tun, als halte man den Sieg nicht für völlig ausgeschlossen.
    Hättest du nur geahnt, Kostek, wie dieses Rennen in Wahrheit ausgeht: Der eine Kavalier mit Namen Płeszczyński endet mit durchschossenem Schädel in einem Wald im Osten; der andere, noch toter, Leopold Kornicki, so wird er in diversen sozialistischen Aufstellungen und Listen geführt, ein Fetzen Mensch, dahinvegetierend in einer niedrigen Ministerialstellung, wird sterben, wie er die ganze Nachkriegszeit lebt: in einem billigen dunklen Anzug, mit der Aktentasche in der Hand und dem Gefühl der Sinnlosigkeit im Herzen, banal, unter einer Warschauer Straßenbahn, während in dem Weichselland Gomułka herrscht. Aber denk zurück, Kostek, denk ordentlich zurück. Das weißt du ja nicht, und ich werde es dir nicht sagen.
    Ich wollte bei diesem Rennen gar nicht antreten. Ich war schließlich nur ein achtzehnjähriges Milchgesicht, vom Schicksal mit einer ordentlichen Anzahl Pickel bedacht, und das waren reife Männer, gutaussehend, selbstsicher, wie ich mir mit Bedauern eingestand. Sie kannten das Leben. Ich kannte nichts.
    Bald wurden Fräulein Iga und ich einander vorgestellt und hatten Gelegenheit zur Unterhaltung, doch die beiden Sommerfrischler machten dem Fräulein sofort wieder den Hof, sodass ich nicht einmal den Mut fand, das Geplauder in die Länge zu ziehen. Was hätte ich gegen solche Männer ausrichten können?
    Iga schenkte mir auch keinen Funken mehr Beachtung, als der gute Ton es erforderte – und sie war ausgesprochen gut erzogen, sorgfältig, besaß jene glänzende Kenntnis der Umgangsformen, die in jeder Situation Sicherheit und Ungezwungenheit garantiert.
    In der ersten Woche der Sommerfrische hielt ich Fräulein Iga für eine sehr interessante, doch für mich unerreichbare Person. Dann hatte Płeszczyński, ein Mann von weniger erlesenen Manieren, es allzu frech auf ihre Tugend abgesehen, wiewohl sie ihm ja keineswegs völlig abgeneigt war. Doch das Tempo, mit dem er vordringen wollte, seine Entschlossenheit, die Hand vom Knie höher zu schieben, auf den Schenkel und weiter, zwangen sie dazu, ihn unzweideutig aus dem Zimmer zu werfen, die Bekanntschaft ebenso unmissverständlich zu beenden und sich künftig auf ein kühles «Guten Tag» zu beschränken. Sie wollte das gar nicht, er gefiel ihr ja, aber sie konnte nicht anders. Und wenn er nur ein oder zwei Tage mit dieser Berührung des Schenkels gewartet hätte und dann noch eine Woche bis zum nächsten Schritt, sie wäre ihm erlegen. Er wartete nicht:

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