Morphin
auf den Namen Nadzieja, der sehr hagere und vermutlich deshalb verständige Priester rümpft nicht die Nase über den unkatholischen Namen, das Mädchen schreit noch ein paar Tage lang laut, genährt von mit dreckigem Wasser vermischter Kuhmilch, von der es zu wenig gibt und die ihre Säuglingsdärme ohnehin nicht verdauen können, sie stirbt am Ende leise winselnd, große Augen im abgemagerten Köpfchen. Fräulein Alicja wickelt sie in ein weißes Laken, sie wird die felsentrockene, in schönen Mustern geborstene Erde mit einer Spitzhacke aufhauen und den kleinen Körper mit brösligem Staub bestreuen. Und sie wird weiterleben, wird aus diesem kasachischen Land Ägypten zu einem Haus der Hoffnung fahren, zusammen mit einer Bande kränkelnder Elendsfiguren, der Ordnung halber Armee genannt, wird mit Schiffen über das Kaspische Meer setzen, auf das gastliche Ufer Persiens treten, von dort wird sie mit dieser Armee nach Palästina ziehen, wird einem Dutzend erschrockener, verwilderter polnischer Waisenkinder gleichzeitig Mutter, Krankenschwester, Kindermädchen und Lehrerin sein, und wenn diese Waisen in Jerusalem ihr Haus bezogen haben, weißes Bettzeug und drei Mahlzeiten am Tag bekommen, wird die Krankenmilitärschwester Alicja einem im Fieber liegenden Offizier einen Revolver Marke Webley stehlen, den der unter dem Bett aufbewahrt, wird in den Krankenhauskeller gehen, sich dort nackt ausziehen, den weißen Kittel abstreifen, die Kleider sorgfältig zusammenlegen, ihren Bauch und die Brüste berühren, wie um sich zu vergewissern, dass sie wirklich nackt ist, wird dann den Hahn spannen und mannhaft Selbstmord begehen, wird sich die Schädeldecke wegschießen, ohne sich im geringsten darum zu sorgen, wie es hinterher aussieht.
Die steinernen Mauern dämpfen den Knall des Schusses; zwei Wochen vergehen, bevor Fräulein Alicja gefunden wird, der die Gerüchte bereits vorwerfen, sie habe nach mutmaßlicher Entdeckung ihrer jüdischen Wurzeln (die sie nicht hatte) das polnische Heer verraten und sei hinaus in den in schmerzlicher Geburt befindlichen jüdischen Staat geflohen. Mit stillschweigendem Einverständnis von General Anders tun das viele aus dieser halbkranken, verhärmten Armee. Als Alicja gefunden wird, nackt und tot, haben die Ratten bereits ihren Schmaus an ihrem Leichnam gehabt und die Fliegen ihre Eier darin abgelegt, und niemanden wundert ihr Tod, die Menschen wundern sich eher darüber, dass man lebt.
Doch du wusstest das nicht, Kostek. Du konntest es damals im Sommerlager nicht wissen und ahnst es auch heute nicht, denn heute poliert Fräulein Alicja noch das Silber in ihrer Wilnaer Wohnung, die bald für kurze Zeit, von Hohn und Gnaden der Bolschewiken, litauisch werden wird. Erst mit dem zweiten Einmarsch der Russen besucht der Starschina sie.
Niemals wieder wirst du Fräulein Alicja begegnen, Kostek.
Deshalb widmest du, Kostek, halb schlafend auf den Knien deiner Frau, im Schokoladenhaus, im vergewaltigten Warschau, Fräulein Alicja nur einen Bruchteil dieser Erinnerung, so wenig, dass nicht viel fehlt, und du vergisst sie ganz, sie wird aus deinem Kopf verschwinden, und bald werden alle gestorben sein, die sie je beim Namen kannten und sich an sie erinnerten, nur der sowjetische Starschina lebt und wird sie nicht vergessen: Noch unter Breschnew und Andropow wird er mit müden Schritten in die Kirchen gehen, wird Buße tun und jeden Tag für diese Polin mit den weißen Schenkeln beten, unter Gorbatschow wird er auf die Solowki-Inseln fliehen und zu einem schweigsamen Anachoreten werden, der zu Unrecht den Ruf eines Weisen hat, während er selbst sich zu Recht nur für einen unwürdigen Büßer hält. Unter Jelzin wird er einen alten Kahn nehmen und aufs Weiße Meer hinausfahren, fahren, solange die Kraft der alten Arme reicht, und dann seinen einzigen Besitz in die Tiefe werfen – das Silberbesteck, er wird sich in den Kahn legen und sterben, und das Meer wird ihn tragen wie einen normannischen Piraten im Drakkar, mit seinem graugelben Haar, der wattierten Steppjacke und abgetragenen Filzstiefeln. Und er wird in den Greisenhimmel kommen und dort seine Frau mit dem durchschossenen Kopf treffen und seine «hungers gestorbene» Tochter Nadieschda – so hat es der sowjetische Kanzleibeamte notiert –, und sie werden umso glücklicher sein, als es diesen Himmel gar nicht gibt und sie selbst erst recht nicht mehr.
Doch das weißt du nicht, Kostek, das weiß nur ich, die mit ihren Händen auf
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