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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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zurück.
    «Ich weiß noch, wie wir uns kennengelernt haben, Iga, Jacek und ich», flüstere ich.
    «Ja, ja, im Sommerlager bei Rochacewiczs. Sie war deine erste Geliebte. Das habe ich schon so oft gehört, dass ich dir längst verziehen habe, dass Iga und du damals …», antwortet Hela halb spöttisch, halb ernsthaft.
    Hat sie mir wirklich verziehen? Gab es überhaupt etwas zu verzeihen?
    In dem Sommerlager jedenfalls waren außer den Posener Beamten, der Ehefrau, dem frühalten Fräulein und den kinderlosen Rochacewiczs auch noch zwei Warschauer Bonvivants um die dreißig, erkennbar angeödet von den gesellschaftlichen Mängeln eines Ferienaufenthalts.
    Aus Langeweile und Höflichkeit umwarben sie Fräulein Alicja, ohne tatsächlich von ihren Reizen gefesselt zu sein; die aber, ungeschickt und staksig in ihrer Weiblichkeit, achtete zu sehr auf die von der Etikette verlangte Distanz. Sie wusste nicht, dass sie in ihrer selbsterrichteten Mauer des guten Namens immer auch Schlupflöcher für subtile Zweideutigkeit, Blicke und Gesten hätte lassen müssen, Ritzen, durch die die Liebe schlüpfen kann, wenn auch nur für eine Nacht. Sie träumte stattdessen davon, dass jemand über diese Mauer klettere. Nachts fasste sie ihren Körper an und versuchte, die schon halbverwischten Erinnerungen an die letzten Männerhände wachzurufen, die sie berührt hatten, und kämpfte gegen das Entsetzen, das mit jedem einsamen Einschlafen in ihr wuchs – die Angst vor dem einsamen Tod, die Angst, jene Hände könnten die letzten Liebesberührungen in ihrem Leben gewesen sein, und die schrecklichen Worte danach könnten die letzten Liebesworte gewesen sein, die sie von einem Mann hören würde. Der schreckliche Fluch, das Wort «Nutte», es kam aus dem Mund eines Lumpen, es war ein böses Wort, aber doch auch ein Wort der Liebe.
    Da lag sie und träumte davon, dass parfümierte Briefchen unter dem schwarzen Dunkel der Verschwiegenheit von Zimmer zu Zimmer wandern. Ich warte heute Nacht. Ich werde zu dir kommen. Ich bebe vor Erwartung. Mein Leben ist in deiner Hand. Deine. Dein. Ganz ergeben. Die wohltuende Lüge der Gefühle ermöglicht die Begegnung, sie macht die tierische Wahrheit des Verlangens gesellschaftlich akzeptabel, auch die nicht minder tierische Wahrheit des Bedürfnisses nach der Wärme des anderen Körpers, dass Haut Haut berühre.
    Sie träumte davon, dass den Briefen leise Schritte nackter Sohlen folgen, dass die Tür sich öffnet und ein Mann darin steht und sie ihn aufnimmt und ihm ihre spröde, modernde Weiblichkeit schenkt. Wenigstens einmal. Bevor sie endgültig dem Alter anheimfällt, dem Tod als Frau. Fräulein Alicja war der Überzeugung, es gebe keine alten Frauen, die Frau sterbe mit ihrer Jugend, und dann welke der Körper zum geschlechtslosen Alter. Sie wollte so sehr, dass einer von ihnen käme. Sogar dich hätte sie aufgenommen, Kostek, auch Jacek.
    Doch niemand kam, weil sie es niemandem erlaubte, und sie verließ das Sommerlager überzeugt davon, die Frau, die sie einst war, gäbe es nicht mehr.
    Und hat sich doch geirrt, denn sie sollte noch einen Mann erleben.
    Dem Mann wird sie sieben Jahre nach dem Sommerlager begegnen. Während du den Kopf auf den Knien deiner Frau hast, sind die Sowjets das erste Mal in Wilna, und sie zittert in der ungeheizten Wohnung. In nicht ganz zwei Wochen werden die Litauer kommen, und dann, im Juni des nächsten Jahres, wieder die Sowjets, und eines Tages wird ein sowjetischer Starschina mit gelbem Haar in ihre Wohnung treten. Er wird sie ohne Grausamkeit vergewaltigen, nicht einmal schlagen, nur auf die Ottomane stoßen, sie wird sich nicht wehren, er wird ihr Kleid aufreißen, die strammen Schenkel auseinanderdrücken, auf Russisch Komplimente über ihre Blässe und Rundlichkeit äußern, sein Ding machen und gehen, nicht ohne die mit Samt ausgekleidete Schachtel mit dem Silberbesteck einzustecken, das Fräulein Alicja vor langer Zeit von ihrer Großmutter bekommen hat, mit der Absicht, es möge eines Tages zur Aussteuer gehören.
    Zwei Monate später, im Zug nach Osten, wird Fräulein Alicja feststellen, dass sie schwanger ist, der gesunde Samen des Burschen aus Kazan ist aufgegangen in ihrem Schoß, den sie schon für vertrocknet hielt. Das schwarzhaarige Mädchen wird in Kasachstan geboren und stirbt dort einen Monat später, als das spindeldürre Fräulein Alicja kein Tröpfchen Milch mehr aus ihren verdorrten Brüsten pressen kann. Das Mädchen stirbt, getauft

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