Morphin
oder im Treppenhaus, doch ich habe den Mut nicht, mich von ihm zu trennen, nicht jetzt. Ich sehe nach oben, im zweiten Stock brennt Licht, warmes Licht, in diesem Licht sitzt Jureczek auf dem Sofa und schaut sich ein Album mit Tieren an oder baut eine Klötzchenburg. Wenn ich an die Tür klopfe, wird Hela wissen, dass ich es bin, jemand anders würde klingeln, sie wird empört sein, dass ich komme, das sei gefährlich. Für sie bin ich ein Flüchtling, und jeder einzelne Deutsche in der Stadt sucht speziell nach mir, Hitler und Himmler brüllen ins Telefon: «Schnappt diesen Kostek Willemann, aber schnell, ihr Ochsen! Kerls! Schnappt ihn, foltert ihn, erschießt ihn und dann hängt ihn auf!» Ich lächle in mich hinein. Hela also wird erst empört sein, dass ich überhaupt gekommen bin, dann wird sie denken, ich sei betrunken oder im Rausch, wird durch den Spion gucken und erkennen, dass ich nüchtern bin, und dann wird sie sich freuen und rufen: «Jureczek, der Papa, der Papa ist da!»
Und Jureczek wird zur Tür laufen, Hela wird öffnen und mich rasch in die Wohnung ziehen, damit ja kein Nachbar mich sieht, Jureczek wird mich an der Hand nehmen, sie küssen, ich frage nach allem, er erzählt mir, kindlich-durcheinander, sicher von Teddybären, von der Mama und was sie heute zu Mittag gegessen haben, ich werde ihm die Schokolade geben, und Jureczek wird sie ganz aufessen und sich den Mund vollschmieren.
In der Wohnung ist es warm, ich habe noch im August dafür gesorgt, dass für das ganze Haus ein ausreichender Kohlenvorrat angelegt wird, woanders frieren sie, bei uns wird die Zentralheizung befeuert und macht in allen Wohnungen warm. Weil ich dafür gesorgt habe. Ich.
Und wenn es warm ist, werde ich meine Jacke, meinen Pullover ausziehen müssen. Ich könnte das Fläschchen in die Hosentasche stecken, aber Hela, wenn Jureczek ins andere Zimmer gelaufen ist, wird sich gewiss mit ihrem ganzen Körper an mich schmiegen, wird mir die Hand auf die Brust legen, sie dann nach unten wandern lassen, am Gürtel vorbei, über den Bauch und tiefer. Und wird das Fläschchen ertasten.
Jureczek. Hela. Geliebte Hela. Eine Woche habe ich sie nicht gesehen, genau eine Woche. Schokolade für den Jungen habe ich, Schokolade tut ihm gut, er ist so mager. Jureczek wird den Papa knuddeln. Ein Gedicht aufsagen. Hela bringt ihm «Wer bist du?» bei, ich hatte nicht mal Lust zu protestieren, obwohl es schrecklich dumm ist, richtig verantwortungslos in solchen Zeiten, einem Dreijährigen so furchtbaren Kitsch einzutrichtern. Ein Dreijähriger ist noch kein Pole, ein Dreijähriger ist kaum ein halber Mensch, ein halbes Tierchen, verrücktes Äffchen, kein Pole. Aber Hela meint, das sei wichtig. Soll sie es ihm beibringen, soll es beim Großvater oder der Großmutter hören, die jeden zweiten Tag zu Besuch kommen und ihn mit ihrem patriotischen Geseiche volllabern. Pflicht. Polnische Frau, Mutter, Hygiene. Künftige Generationen. Die Kinder sind das Wichtigste, sind die Zukunft des Volkes. Physik, Eugenik und Schwarzafrika. Es geht nicht um Jureczek, das blonde, Cherubimenkelchen, nein – um Kinder, polnische Kinder. Gekotzt darauf.
Ich fühle in der Tasche nach. Da ist es, mein Gold, mein Leben.
Und mache auf der Stelle kehrt. Vor sieben schaffe ich es noch nach Powiśle, so kurz vor der Polizeistunde wird sie mich nicht auf die Straße werfen. So lange war ich nicht dort, zwei Monate, wie ein halbes Leben, ich wollte nicht hin und gehe jetzt endlich doch.
Und wieder: Warschau, nicht mehr meine Stadt, gut, dass es nicht gießt, sonst wären nicht nur die Schuhe, sondern auch die Hose bis zu den Knien verdreckt. Mit verdreckten Hosen kann man sich nirgendwo zeigen.
Blumen sollte ich mitbringen, aber woher kriege ich jetzt Blumen? Ohne Blumen zu ihr geht schlecht. Wenigstens Chrysanthemen.
Ja, warum keine Chrysanthemen? Sie wird das zu schätzen wissen, in doppelter Hinsicht. Erstens, weil ich überhaupt mit Blumen komme, zweitens, weil es Friedhofsblumen sind, düstere Blumen, das hätte sie schon früher zu schätzen gewusst, bevor alles zu Bruch ging, jetzt wird sie es umso mehr schätzen.
Nachdem ich durch den Schlamm gewatet bin, stehe ich schließlich vor ihrem Haus. Mit Chrysanthemen, von einem Grab gestohlen, ein Holzkreuz aus Latten, gekrönt von einem französischen Helm Typ Adrian, auf der Tafel ungeschickt eingekratzt: Hier ruht Gefreiter Głowiński vom Dreißigsten Infanterieregiment. Was soll der noch mit Blumen? Der
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