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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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hinzu, als wäre sie ermächtigt, sämtliche Details aus dem Leben des Dr. Rostański mitzuteilen.
    Ich danke und lege auf.
    Also was jetzt?
    Ich könnte noch einen trinken, aber das tu ich nicht. Nach Hause? Es erklären, Hela fragen, was sie davon hält? Zu meiner Mutter?
    Aber nein. Das bin ich Jacek schuldig. Ich bin ihm Iga schuldig.
    Es trägt mich zu Jaceks Wohnung, meine Beine tragen mich, aber gehe ich da durch die Straßen, setze ich diese Schritte in den schlammverdreckten Stiefeln, bin ich es, der da geht? Was treibt mich zu ihm?
    Jaceks Wohnung ist groß, eine Arztwohnung, in einem Mietshaus an der Wilcza. Ich laufe die Marszałkowska lang – wird er zu Hause sein, ich weiß es nicht, aber ich gehe, getragen von der Überzeugung, dass es möglich sei, sein Leben durch einen Willensakt zu ändern. Ich lasse mein anderes Selbst in Salomés Wohnung, in dem Haus in der Lesznostraße zurück, am Leichnam von Kajetan Tumanowicz, das andere Selbst ist nicht mehr da.
    Ich bin jemand anderer: bereit, alles zu opfern, ich bin der, der einem Freund geholfen hat, der der Versuchung des Rausches widerstanden hat, ich bin würdig, mutig, bin polnischer Offizier, bin Mensch, bin Mann, ich bin, bin, es trägt mich diese Treppe hinauf und bis vor Jaceks Tür, das Vorkriegsschildchen im Blechrahmen daran, Dr. med. Jacek Rostański, also klingle ich, kein Strom, die Klingel stumm, klopfe also, Jacek, mein einziger Freund, sei zu Hause.
    «Jacek, mach auf, ich bin’s!», schreie ich in die Tür.
    Und endlich macht er auf, er ist da, ist zu Hause, mein Jacek.
    Im gestreiften Schlafanzug steht er vor mir, der Blick völlig abwesend, das Haar zerzaust, und ich stehe da und rieche noch vor der Schwelle seinen unfrischen Atem. Er setzt die Brille auf, die Drahtkringel wollen nicht richtig hinter das Ohr, jetzt hat er sie aufgesetzt.
    «Kostek», sagt er leise, nur das.
    Er lässt mich in die Wohnung, die groß und schön ist, aber voll schrecklicher Unordnung und Dreck. Iga nicht da, kein Dienstmädchen, Jacek war auch weg, aber wer hier alles so zerwühlt hat, weiß ich nicht.
    Ich gehe ins Wohnzimmer, Jacek schlappt mir hinterher, als wäre ich hier der Hausherr.
    Ich setze mich in den Sessel, ungebeten.
    «Ich hab kein Morphin», stößt er schließlich mit einer Stimme hervor, so leblos wie die vertrockneten Blumen im Zimmer, Vorkriegsblumen, von Igas Hand gepflanzte Blumen.
    «Ich will kein Morphin, hab ich doch gesagt.»
    «Was willst du dann?» Die einfache Frage eines ausgelaugten, verbrauchten Menschen.
    «Ich weiß, wo Iga ist.»
    Jacek schwankt erschüttert, taumelt, lehnt sich gegen die Wand und gleitet an dieser Wand nach unten wie etwas Ausgerotztes.
    «Sie lebt?»
    «Ja. Verhaftet. In der Szucha  25 , dort ist jetzt die deutsche Polizei. Sie könnten sie auch in den Pawiak verlegt haben.»
    «Aber wofür verhaftet, meine Iga, wofür?», jammert er, schon durch Tränen, Tränen, für die er keine Kraft hatte, kaputt, erschöpft, leer.
    «Ich weiß nicht, wofür, Jacek. Hör jetzt zu. Ich hole sie da raus.»
    Er hört nicht zu, er weint, ist umgekippt, liegt jetzt auf dem schmutzigen Parkett und weint, ein großes Kind mit dem Titel Dr. med.
    Und ich beginne zu erzählen, von allem. Keine Geheimnisse. Von Witkowski, von der Organisation und davon, dass ich für die Organisation Deutscher werden würde.
    Das heißt, von allem nicht. Ich kann ihm nichts von der Ermordung Tumanowiczs sagen, davon kann ich niemandem erzählen, das gebe ich nicht einmal vor mir selbst zu. Ich habe es ja auch schon beinahe vergessen.
    Und du wirst es ganz vergessen, Kostek. Du wirst es aus deinem Kopf verbannen, dieser Tumanowicz wird dich nur in deinen Träumen besuchen, aber in solchen, die nicht geradewegs ins Bewusstsein dringen, von denen nur Säfte durchsickern und dich tropfenweise vergiften. So wie sie deine Erinnerungen vergiften, Kostek. Du erinnerst dich nicht, aber ich erinnere mich, ich war immer bei dir.
    Du erinnerst dich nicht, wie du einen Kameraden verpetzt hast, der einen anderen Kameraden liebte, du weißt nicht mehr, wie du den Pedell am Ärmel genommen hast, fester dunkelblauer Stoff, Messingknöpfe, und ihn auf den Dachboden der Schule führtest, wo diese Jungs nackt dastanden und sich küssten, und der Pedell, spießbürgerlich und aufrichtig empört, hat sie nackt am Ohr gepackt, ihre Hände bedeckten schamvoll das mit jungem Haar bewachsene Geschlecht, hielten es, als versuchten sie, das Leben

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