Morphin
reagierst, mein Lieber.
«Ah, fast hätte ich’s vergessen», Witkowski kehrt auf halbem Wege um. «Das ist für Sie.»
Er legt ein kleines, dickes Papierquadrat auf den Tisch, ein mehrfach gefaltetes Blatt. Und geht raus, verschwindet, war er wirklich hier gewesen? Der seltsame Blick des Kellners spricht dafür.
Ich falte das Papier auseinander. Mit grüner Tinte steht da auf Polnisch geschrieben: «Iga Rostańska, verhaftet bei Radzymin am ersten Oktober, gegenwärtig in Untersuchungshaft in der ul. Szucha 25 , kann ins Gefängnis in der ul. Dzielna 24 / 26 verlegt werden.»
Erster Gedanke: Was hat sie am ersten Oktober bei Radzymin getan? Warum ist sie aus Warschau geflohen, statt Jacek zur Seite zu stehen?
Zweiter Gedanke: Jacek anrufen, das heißt ja, dass Iga am Leben ist, am Leben! Ihm alles erzählen – aber auch von den Fotos bei Salomé?
Dritter Gedanke: Ein Tag, er hat das im Laufe eines Tages herausbekommen. Das ist also keine alberne Westentaschenorganisation, die nach Taten dürstet und mangels Möglichkeiten und Mitteln tatsächlich gar nichts bewirken kann. Witkowski kann. Warum also nicht mit ihm zusammenarbeiten in dieser Sache? Selbst wenn er die deutsche Identität überzieht. Das größte Opfer bringen, sein Leben fürs Vaterland zu geben, das kann jeder Soldat – aber sich selbst verleugnen, den eigenen Namen und die Ehre, sich nicht nur Kugeln einzufangen, sondern sich den Beschimpfungen und Bespeiungen stolz zu stellen – bin ich dazu bereit?
Vielleicht nur deshalb, weil ich daran denke, wie groß mein Ruhm nach dem Sieg sein wird? Wenn die Masken fallen und das breite Publikum aus würdigem, glaubhaftem Munde erfährt, dass Konstanty Willemann niemals seinem Vaterland abgeschworen hat, nur einen Auftrag ausführte, den das Vaterland ihm anvertraut hat.
Nicht nur deshalb, nein.
Ja, Kostek, hab keine Angst vor dem Gedanken an Heldenmut, schäm dich dieses Gedankens nicht, antreiben soll er dich, was sonst könnte dich antreiben? Ja, Kostek, mein Liebster, mein Einziger.
Also nicht nur deshalb. Selbst wenn ich als Deutscher sterben sollte, mein Leben verlieren und damit für immer auch den guten polnischen Namen, bin ich dennoch bereit dazu?
Du bist bereit, Kostek, denn so bist du erzogen, von Vater und Mutter gleichermaßen, bereit zu sein zu sämtlichen Opfern dieser Art, keine Angst davor zu haben, denn es sind metaphysische Opfer, sie bedürfen keiner gesellschaftlichen Bestätigung, es genügt, wenn du selbst dich entschließt, sie berühren deine intime Beziehung zu diesem höchst seltsamen, geheimnisvollen Wunder, dem Vaterland.
Vaterland.
Ich trinke den Cognac und spüre nach den zwei Schnellen und diesem Gläschen schon einen leichten Rausch.
Und aus diesem Rausch steigt ein Gedanke auf, nein, der Schatten eines Gedankens allenfalls, wie der Stich einer winzigen Nadel, irgendwo tief verborgen.
Das Fläschchen voller regenbogenfarbener Freude und Vergessen und der Körper der süßen Salomé, die weiße, weiche Haut und die Falten und der Geschmack und die Hitze ihrer Fraulichkeit und die pralle Haut ihrer Brüste …
Doch nein, nein, ich unterdrücke das Gefühl. Ich bin nicht mehr dieser Konstanty. Wohin hat es mich geführt, dass ich Konstanty der Morphinist und Hurenbock war – dahin, dass ich einem Menschen das Auge herauskratzte, um ihn anschließend kaltblütig zu ermorden, obwohl er mir zuvor mein Leben geschenkt hatte. Nein, keine Drogen, keine Geliebten mehr.
Jetzt zählt nur Polen.
An der Bar bestelle ich noch einen Cognac und kippe ihn gegen alle Sitten hinunter, will bezahlen – doch der Kellner lässt es nicht zu.
«Aber wieso nicht, Herr Ober?»
Er lächelt diskret und wohlwollend.
«Die Herren trinken hier umsonst», sagt er, als wüsste und verstünde er alles.
Dagegen lässt sich schwer argumentieren, was bleibt mir also übrig?
Jacek fällt mir ein.
«Kann man bei euch telefonieren?»
Der Kellner bückt sich höflich und reicht mir einen schwarzen Bakelitapparat an langer Schnur. Der Amtston erklingt, ich wähle die Nummer des Krankenhauses und bitte um Doktor Rostański.
«Nicht da», antwortet die traurige Stimme der Krankenschwester, die ich irgendwie mit dem ausgelaugten Fräulein mit prallem Hintern assoziiere, deren Verwelken im Dienst an den Kranken ich bedauerte, als ich Jacek das letzte Mal besucht habe.
«Ist nach Hause gegangen, schlafen, ausruhen, er war seit zweiundsiebzig Stunden auf den Beinen», fügt sie
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