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Morphin

Morphin

Titel: Morphin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Szczepan Twardoch
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eine Vorhut des Begehrens, und ich würde mich gern, könnte mich schon wieder mit ihr vereinigen, doch Hela schiebt mich sanft zurück, lachend, aber doch.
    «Geh, geh, es ist Zeit, Konstanty.»
    Ich stopfe die Papiere in die Aktentasche, die Schulzeugnisse, Militärpapiere, alles, ziehe mich an und gehe und denke daran, dass ich zum letzten Mal als amtlicher Pole durch die Straßen Warschaus gehe, aber zu grüßen gibt es ohnehin kaum jemanden, deshalb gehe ich noch auf einen Kaffee zu Lardelli, setze mich unter die Palme und trinke einen halben Schwarzen, aber nicht einmal dort treffe ich einen Bekannten. Nach dem Kaffee ziehe ich weiter.
    Was suchst du, Kostek, was suchst du in der Stadt in deinem Tweedanzug, die Fresse wundgeschlagen von dem, den du ausgelöscht hast?
    Vielleicht sollte ich mich selbst fragen, warum ich ständig bei dir bin, warum ich dir nacheile, warum ich dich nicht verlasse?
    In der Marszałkowska springe ich auf eine Fuhre, die von einer Schindmähre gezogen wird, nur ein Stehplatz noch frei, die harten Bänke alle besetzt. Ich könnte ein ländliches Weibsbild zu überzeugen versuchen, dass mein Körper mehr auf einen Sitzplatz angewiesen sei als ihr Eierkorb, aber ich bin nicht in der Stimmung für einen Streit mit dem Landvolk, schweige und gerate unschön ins Schwanken, wenn die Fuhre über Schlaglöchern aufspringt.
    Die Fahrt im Stehen auf einem Pferdewagen ruft mir plötzlich Bilder ins Gedächtnis: Holzschnitte aus der französischen Revolution, die Verurteilte auf dem Weg zum Schafott zeigten.
    Ich steige aus, gehe durch den Sächsischen Garten, weine kurz vor den Brandresten des Sommertheaters, mit dem ich so viele schöne Erinnerungen verbinde, so viele Frauen! Komme auf die Fredrostraße hinaus und bleibe vor der Bank des Juden Wawelberg stehen, der beim Januaraufstand mitgekämpft haben soll. In diesem Haus befindet sich der Deutsche Klub.
    Ich trete ein, ohne eine Ahnung, was ich tun soll. Doch kaum habe ich die Tür geöffnet, weiß ich es.
    Der Flur ist schon voll. Voller Anwärter aufs Deutschsein, wie ich sogleich begreife.
    Ein bunter Querschnitt der Gesellschaft, alles drängt sich vor den Türen, von denen die zweisprachigen Schilder noch nicht entfernt worden sind.
    Die Tür geht auf, und sofort strömen mehrere Personen beiderlei Geschlechts in die Räume des Klubs.
    Ich bleibe an der Wand stehen und beschließe, mit unverbrüchlicher Geduld so lange zu warten wie nötig.
    Für die drängelnde Menge habe ich nur Verachtung: Verräter, Konformisten, erbärmliche Kreaturen, in deren Adern oft bestimmt kein einziger Tropfen deutsches Blut fließt, sie sind hierhergekommen, wie sie zu jedem gekommen wären, der stärker ist. Kanaillen. Gesindel. Echtes Lumpenpack und kleinbürgerliches Lumpenpack, gebildet, im Anzug und dennoch Gelump.
    Die Tür geht wieder auf, und ein empörter Gentleman tritt heraus, der in sehr kantigem Deutsch brüllt, er kenne jemanden aus Himmlers engstem Kreis und werde sich bei ihm beschweren, was hier vorgehe, schreie zum Himmel!
    Das Letzte ruft er schon auf Polnisch.
    Hinter ihm im Zimmer sehe ich – meine Mutter.
    Wie sie sich verändert hat! Indianerhäuptling Weiße Adlerin sitzt nicht mehr im Sessel hinter einem Schleier weißen Haares, ihre Haare sind straff zu einem dünnen Zopf gesteckt und dieser im Nacken zu einem zierlichen Nest gebunden. Das Gesicht unverändert, greisenhaft, die Hände greisenhaft, aber sie hat etwas an, das wohl eine weibliche Uniform aus dunkelgrünem Stoff darstellt, ohne Rangmerkmale oder Abzeichen.
    Auch sie hat mich gesehen, lächelt, winkt mir zu, die Menge tritt auseinander wie unter dem Stab des Moses, und ich gehe hinein.
    Eine Art Kommission arbeitet hier, die von Bewohnern Warschaus schriftliche Anträge auf Anerkennung als Deutscher entgegennimmt. Hinter dem Tisch sitzen zwei Zivilisten, die ich vielleicht sogar einmal gesehen habe, ihre Gesichter kommen mir bekannt vor, dort sitzt auch ein Mann in einer mir unbekannten Uniform, mit einem Monokel im Auge, das gar nicht zu der nachlässigen Frisur und dem schlecht rasierten Kinn passen will. Und meine Mutter sitzt dort, als wäre Katarzyna Willemann als oberste Instanz berufen, das Deutschtum der Einwohner Warschaus zu bewerten.
    «Das ist mein Sohn», sagt meine Mutter schlicht.
    Und deine Verachtung für die an der Tür drängelnde Masse zerfiel zu Staub, deine Sicherheit, dass das so getan werden musste – für Polen – zerfiel ebenfalls. Denn

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