Morphogenesis
modelliert. Ihr Haupt bedeckte ein segmentiertes, tuchähnliches Gebilde, das ihren Kopf umschloss wie ein futuristischer Raumfahrerhelm. Es konnte sich aber ebenso um stilisierte Haarlocken handeln, die dem Golem bis fast auf die Schultern fielen. Der Oberkörper war nackt gebildet und zeigte ein Paar mächtiger Brüste, die Hüften zierte ein knielanger Lehmrock, der von einem breiten Gürtel gehalten schien. Beine und Füße waren bloß. Auf Adas Stirn prangte eine handtellergroße Lehmscheibe, in die zwei hebräische Buchstaben geritzt waren. Ein dritter war verwischt, als hätte man die Stelle hastig mit den Fingern glatt gestrichen.
»An de Wand!«, befahl Meliosch seiner Kreatur. Der Golem, dessen Lehmhirn nach der Lösung des Rätsels suchte, stapfte folgsam zur Synagogenmauer und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Gestein. »Kletter uff ihre Schultern«, wies Meliosch mich an.
»Wird sie das zulassen?«, vergewisserte ich mich beim Anblick des leblosen Gesichtes, dessen Augen keine Pupillen besaßen.
»Solange se nachdenkt, ja.« Als ich mich nicht bewegte, gab mir Meliosch einen Stoß in den Rücken. »Steh nich rum wie a Eljetze, beejl dich!«
Umständlich versuchte ich, an dem Golem emporzusteigen, doch meine Aufregung verhinderte einen Erfolg.
»Hilf ihm uff dejne Schultern!«, befahl Meliosch.
»Was? Moment …!«, rief ich erschrocken, doch da hatte mich die Kreatur schon hochgehoben. Von einem Moment zum anderen hing ich fast vier Meter über dem Boden in Klauen aus Lehm. Einige ungeschickte Versuche später stand ich auf Adas breiten Schultern, streckte mich und bekam den Sims zu fassen. Er war etwa einen halben Meter breit, doch ich hatte nicht genug Kraft, mit meinen Fingerspitzen einen Klimmzug zu machen.
»Heb ihn hoch!«, vernahm ich Melioschs Stimme.
Adas mächtige Lehmpranken umklammerten meine Knöchel und hievten mich so plötzlich in die Höhe, dass ich mit dem Kopf beinahe gegen den Sims knallte. Ich schaffte es, beide Arme darauf abzustützen, quälte mich empor und rollte mich schließlich auf den Vorsprung. Dort blieb ich liegen und verschnaufte einen Augenblick.
»Alles in Ordenung?«, erkundigte sich Meliosch.
Ich hob den Daumen.
»Was soll det bedejten?«, kam es von unten.
Krispin, der Kerl lebte im 16. Jahrhundert!
»Alles in Ordnung!«, bestätigte ich.
Meliosch äußerte ein zufriedenes Grunzen. »Dann werd ich mich jetzt verdrjcken, ehe Ada merkt, dass det Rätsel viele Lejsungen hot. Sieh nur zu, det de uff der anderen Sejte im Fluss blejbst, un verursach nie a Stagnation …«
»Stagnation?«
»A Stillstand. A Verstopfung. Sonst bekommst Scherereje mit de Chronern.«
»Was sind die Temper?«
»Det kann ich dir net sagen. Hob noch kejnen getroffen, der de Begegenung mit ihnen jberlebte. Wejß net, wos se sind, un auch net, wie se aussehen. Ich kann dich nur vor ihnen warnen.«
Ich sah zu ihm herab. »Danke für deine Hilfe. Willst du nicht doch mitkommen?«
»Ich hob hier Glaubensbrjder, die mich ejbenso brauchen, wie ich sie. Lebbe wohl, Hippolyt!« Er hob zum Abschied die Hand, dann drehte er sich um und war im Nu um die Synagogenecke verschwunden.
Ich atmete tief durch und sah auf den Golem hinab. Er rührte sich nicht. Vorsichtig robbte ich vor bis zur Sektormauer und begann, die mächtigen Quader, aus denen das Gebetshaus erbaut war, emporzuklettern. In ungefähr zwölf Metern Höhe erreichte ich die Fenster. Entsetzliche Schreie drangen nun deutlich an meine Ohren. Ich warf nur einen kurzen Blick in das Innere, um sofort weiterzuklettern.
Mein Gott …!
Der Übergang auf das mit Schindeln bedeckte Dach gestaltete sich komplizierter als erwartet, denn es gab keine Regenrinne, die einem Kletterer Halt geboten hätte. Außerdem war es nur ein Vordach, wie ich nun feststellte, über das ich zu einer weiteren, nach hinten versetzten Wand der Synagoge gelangte, in die ebenfalls Fenster eingelassen waren. Es war jedoch verhältnismäßig flach und die Schindeln rau, sodass kein Abrutschen drohte. Ich versuchte, einige der Deckplatten herauszubrechen, um die entstandenen Löcher als Steighilfen zu benutzen. Es ging überraschend leicht, und nach kurzer Zeit war ich über meine Notleiter bis zur oberen Wand geklettert. Der Gestank verbrannten Fleisches quoll aus den Fenstern und machte das Atmen mittlerweile zur Qual. Die Wand, über der das eigentliche Dach begann, war nur unwesentlich höher als die Fenster. Tief unter mir hörte ich ein gleichmäßiges
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