Morphogenesis
Stampfen, das sich rasch entfernte. Der Golem hatte seine Jagd wieder aufgenommen …
Auf dem Dachfirst angekommen, überblickte ich zum ersten Mal einen Teil des Stadtsektors, in den es mich verschlagen hatte. Die meisten Häuser waren rußverdreckt und zum Teil ausgebrannt. Ein paar Kirchentürme reckten sich in den grauen Dunst, die Straßen sahen von hier oben aus wie eine Mondlandschaft. Auf den Dächern der Häuser entdeckte ich Hunderte von Chronern. Sie standen oder saßen auf den Giebeln und Dachkanten, unterhielten sich oder blickten erwartungsvoll in die Tiefe. Weit entfernt herrschte reges Treiben auf den Dächern, wo die dämonischen Aufseher qualmende Gegenstände in die Tiefe schleuderten. Rauch stieg aus dem darunterliegenden Straßenzug auf und machte deutlich, wo der schicksalhafte Jagdtrupp sich gerade befand. Nun sah ich auch, dass es insgesamt vier Zeppeline waren, die über dem Sektor schwebten. Zwei der Luftschiffe befanden sich unmittelbar über der Stelle, wo ich den Soldatentross vermutete. Während die Chroner dort ihre Granaten von den Dächern warfen, bombardierten die Insassen der Zeppelingondeln ihrerseits die Aufseher auf den Dächern.
Einige der Chroner auf den umliegenden Häusern erhoben sich, als sie mich auf dem Dach der Synagoge entdeckten, und kamen so weit herübergelaufen, wie es die Abmessungen ihrer Häuser zuließen. Sie heulten und brüllten lästerliche Flüche, fletschten die Zähne und schwangen drohend ihre Rebaschen. Aber sie konnten mir nichts anhaben.
Doch, sie können dir ihre Bomben auf das Dach werfen, widersprach Giza. Sieh lieber zu, dass du Land gewinnst!
Ich lief vor bis zur Stacheldrahtbarriere und blickte hinunter in den dahinter liegenden Sektor.
Menschen!
Hunderttausende von Menschen wanderten Schulter an Schulter durch die Straßen wie Pilger bei einer Mekka-Prozession – schweigend, die Köpfe gesenkt, teilnahmslos. Chroner standen auf Podesten entlang der Straßen und ließen Peitschenriemen kreisen. Dutzende von Zyklopen und seltsame Geschöpfe, die aussahen wie Schildkröten mit Objektivköpfen und den Spiegelaufsätzen von Overhead-Projektoren, liefen durch die Menge oder saßen reglos am Straßenrand. Bei Letzteren musste es sich um die von Meliosch erwähnten Zeitmessgeräte handeln. Niemand sah zu mir empor, nicht einmal die Zyklopen. Ich entdeckte Hotels, Bars, die flackernden Neonwerbungen von Nachtlokalen und Spielhallen, doch alle Eingänge waren verschlossen und verbarrikadiert. Unterhalb der Synagoge, genau auf der anderen Seite der Mauer, lag ein kiesbedecktes Flachdach – allerdings gut zehn Meter unterhalb meines jetzigen Standpunkts. Ein seitenverkehrter Reklameschriftzug protzte über seiner der Straße zugekehrten Kante: ›DRAGON ROUGE‹.
Blieb nur die Frage, wie ich durch den Stacheldraht gelangen sollte. Nahm ich einige kleinere Wunden und Schrammen in Kauf, so konnte ich einen Großteil der engliegenden Spiralen einfach auseinander biegen und hindurchschlüpfen. Ganz ohne Blutverlust würde es jedoch nicht zu bewerkstelligen sein. Ich hoffte, dass mich der Overall halbwegs schützen würde, zwängte mein Bein auf die Mauerkrone und teilte das bösartige Hindernis mit den Händen. Dann zwängte ich mich in die Öffnung und stand mitten im Stacheldrahtverhau. Falls ich jetzt ausrutschte, würde es eine sehr schmerzhafte Erfahrung werden.
Unvermittelt ertönte ein Schuss, ein Querschläger jaulte an meinem Kopf vorbei. Mir blieb für eine Sekunde das Herz stehen. Einer der Soldaten musste mich entdeckt haben. Womöglich hatten auch die Chroner ihn auf mich aufmerksam gemacht, da sie selbst ihre Dächer nicht verlassen wollten. Undeutliche Befehle wurden hinter mir laut, dann begann ein Maschinengewehr zu knattern, und die Holzschindeln flogen mir nur so um die Ohren. Der oder die Schützen waren in der Synagoge, und nicht davor! Sie mussten auf den Dachstuhl gestiegen sein und befanden sich womöglich direkt unter mir!
Hektisch arbeitete ich mich durch den Stacheldraht, was nicht ohne Folgen blieb. Die Stahldornen rissen mir tief in die Haut, und der Overall ließ große Stofffetzen an den Zinken zurück, doch lieber ein paar Schrammen und Risse, als die Eingeweide voller Projektile. Ich fluchte, zwängte mich voran und hing schließlich, nur am Stacheldraht Halt findend, über dem Temper-Sektor. Zwei weitere Maschinengewehrsalven ließen Schindeln und Betonsplitter durch die Luft spritzen. Querschläger jaulten, dann
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