Morphogenesis
umfassende Geste. »Suchen Sie sich eine Tür aus. Jeder Raum birgt Wahrheit.«
»Bei allem Respekt, aber ich möchte denjenigen sprechen, der für diese Abartigkeit verantwortlich ist!«
»Sie werden doch nicht etwa aufsässig, Mister Ka?«
»Ich verlange lediglich eine Erklärung«, rechtfertigte er sich. »Es existiert doch hoffentlich so etwas wie ein Direktorium? Ein Chefarzt?«
»Ich fürchte, Doktor 8 hat keine Zeit für einen Dummkopf wie Sie, Mister Ka.«
»Lassen Sie ihn das bitte selbst entscheiden.«
Die Schwester schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »Ihr glaubt, der Krieg hätte euren Willen befreit, nicht wahr? Ihr bildet euch ein, eure Existenz gerettet zu haben und universelle Entscheidungen treffen zu dürfen. In Wirklichkeit habt ihr alles verloren. Ihr glaubt, wir existieren nicht mehr, aber ihr täuscht euch. Wir sind noch da!«
»Wovon reden Sie?«
»Von denen, die ihm treu geblieben sind, und jenen, die fielen, Mister Ka. Waren Sie schon einmal im Ministerium für Wahrheit?«
»Nein.«
»Es ist ein Ort der Türen. Hinter diesen Türen befindet sich alles, was wir von euch sehen wollen.« Sie trat ein Schritt an ihn heran, und ihre Stimme wurde bedrohlich leise. »Wir beobachten euch«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Wir geben euch Zeit, eure eigenen Verfehlungen zu erkennen. Wir geben euch Zeichen, wir verwarnen euch. Letztendlich bestrafen wir euch. Das Ministerium für Wahrheit ist das Ende aller Verfehlungen. Also bitte …« Sie öffnete die Tür hinter seinem Rücken und machte eine einladende Geste.
Zögernd warf Ka einen Blick in den Raum, der sich ihm geöffnet hatte. Drei reglose, weiß gekleidete Gestalten standen wie Wachsfiguren neben einem Krankenbett, zwei dunkelhäutige Männer mit Mundschutz und eine Frau. Ka brauchte nicht lange zu rätseln, wer die Frau war, obwohl sie ihm den Rücken zuwandte. Auf dem Bett, über das sie sich beugte, lag besinnungslos eine dick bandagierte Person, bei deren Anblick Kas Herz für einen Moment stockte.
»Fürchten Sie sich nicht.« Die Schwester legte ihm auffordernd eine Hand auf die Schulter. »Gehen Sie hinein.«
Langsam trat Ka in den Raum, blieb jedoch auf halbem Weg zum Bett stehen, denn im selben Moment, in dem er das Zimmer betrat, erwachte die Szenerie zum Leben. Die beiden Pfleger legten dem Kranken hastig Infusionen und schoben Schläuche in seine Nase, derweil die Frau ihm einen Tubus in den Mund steckte. Der bis zur Unkenntlichkeit von Verbänden umwickelte Körper auf dem Bett war verkabelt, Schläuche führten in Brustkorb und Unterleib. Eine zischende Maschine versorgte den Kranken mit Sauerstoff. Am Kopfende des Bettes erhob sich ein Geräteturm mit Monitoren und Oszillographen, auf denen Zahlen und Herzfrequenzkurven flimmerten; ein computergesteuertes Lebenserhaltungssystem, das den Kranken und das Zimmer beherrschte.
Die Frau unterbrach ihre Arbeit unversehens und sah Ka direkt in die Augen. »Wahrheit, Mister Ka, ist zumeist ein sehr hässliches Tier«, erklang es gedämpft unter ihrem Mundschutz hervor. »Man bereitet Ihnen statt eines seligen Dahinscheidens einen Horrortrip: Sticht Ihnen Nadeln in die Venen, um Ihrem Blut giftige Katecholamine und Diuretika zuzuführen, schiebt Ihnen Infusionsschläuche durch die Nase bis hinab in den Magen, obwohl es an Zynismus grenzt, einen Todgeweihten noch mit Nahrung zu versorgen. Man schließt Dutzende elektrischer Sensoren an Ihren Körper an, die ein Kraftfeld um sie herum erzeugen, das Ihre nervlichen Funktionen irritiert und fehlleitet. Aber man hat einen hippokratischen Eid geschworen. Also flickt man Sie wieder zusammen, schiebt Ihnen einen Tubus in den Schlund bis tief in die Luftröhre. Und eine Maschine mit Blasebalg, die nicht fühlt, ob Sie überhaupt noch atmen wollen, pumpt Ihnen – ohne Rücksicht, wie viel Sie nötig haben – pfff, pfff, pfiff, die Atemluft zwischen die Rippen.
Sie begreifen es nicht, ertragen es nicht, wollen vielleicht nur sterben. Ihre Arme und Beine sind bereits eiskalt und marmoriert, alles in Ihnen wehrt sich gegen den gnadenlosen Lebenszwang. Doch es ist zwecklos. Sie liegen festgeschnallt, festgezurrt auf dem kalten Gummituch. Auf Sie und Ihre um Erlösung flehenden Augen achtet keiner, weder die Schwestern noch die Ärzte. Alle starren nur auf die Pumpen, die piepsenden Monitore, und darauf, ob die Kanülen fest genug in Ihrem stumm schreienden Fleisch stecken …«
Wortlos zog sie eine vergilbte Spielkarte aus ihrer
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