Morphogenesis
tiefsten Regenwald. Nach etwa fünfzig Metern umschlossen dichtwachsende Baumriesen die Wasserfläche und ließen den undurchdringlichen Wald hinter sich erahnen. Ich hatte den Eindruck, am Rande eines gigantischen Geysirs zu stehen, hinter dem eine zweitausend Meter hohe Felswand senkrecht emporwuchs. Von ihr stürzten die zu Gischt gewordenen Wassermassen des Kataraktes in die Tiefe und hüllten einen Großteil des Sees in Dunst. Die Flanke des Limbus begann ohne Übergang, fast so, als hätte man den Erdboden einfach um neunzig Grad gekippt. Übermächtig und alles unter sich demütigend ragte die Felswand vor uns auf. Nein, dies war kein Gipfel, der sich erklimmen ließ – es war das unanzweifelbare Ende dieses Infernos!
Bereits nach kürzester Zeit war unsere Kleidung durch die Luftfeuchtigkeit und die über den See wehende Gischt vollkommen durchweicht. Ich bückte mich und griff ins Wasser, zog die Hand jedoch mit einem Schmerzenslaut wieder heraus.
»Brühwarm!«, stieß ich hervor. »Der See muss von einer heißen Quelle aus dem Erdinneren gespeist werden.«
»Wenn du das glaubst«, sagte Byron. »Ein recht interessantes geologisches Phänomen im Inneren eines Raumschiffes, findest du nicht?«
»Werden uns die Chroner bis hierher folgen?«
Byron starrte unverwandt ins Wasser und schüttelte gedankenverloren den Kopf. »Das bezweifle ich. Sie verschmähen die Außenbezirke.«
»Warum?«
Der Schwarze warf einen knappen Blick über die Baumwipfel. »Wegen der Bene Elohim …«
»Ja, ich habe darüber gelesen«, erinnerte ich mich.
»Hat dein Schmöker dir auch verraten, was sie sind?«
»Die Halbgötter der biblischen Genesis. Gefallene Gottessöhne, die Menschenfrauen jagten und …«
»Es sind Riesen«, unterbrach mich Byron. »Gesellen wie Polyphem oder Geryoneus. Sie streifen durch die Wälder und bewachen die Aufgänge zum Limbus.«
Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Riesen?«
»Die Nephilim, die Gewaltigen. Die Anakim, die Langhalsigen. Die Emim, die Schrecklichen. Und die Awwim, die Verwüster. Selbst für eine Chroner-Armee sind sie eine Nummer zu groß.«
»Hättest du mir das nicht etwas früher verraten können?«
Mein Begleiter pumpte die Backen auf, blies die Luft durch die gespitzten Lippen aus und starrte wieder ins Wasser. Ich folgte seinem Blick, dann sah ich, was Byron so bannte: Dutzende von Augen blickten aus der Tiefe zu uns empor! Menschliche Gesichter über nackten Leibern. Zwei, drei Meter unter der Wasseroberfläche hatten sie sich versammelt wie ein hungriger Schwarm Karpfen, die darauf warteten, Brotbrocken zugeworfen zu bekommen.
»Sie sind im kochenden Wasser!« Ich sah hinab in ihre schmerzerfüllten, sehnsüchtigen, verzweifelten Augen. »Warum kommen sie nicht heraus?«
»Sie können nicht.«
»Aber sie bräuchten nur an Land zu klettern.«
»Ja, das bräuchten sie«, bestätigte Byron. »Aber dann würden sie ewig ersticken. Eine besonders humorvolle Macht hat dafür gesorgt, dass ihnen Kiemen gewachsen sind. Es sind Selbstmörder. Ihr Los war es einst, in den Bäumen gefangen zu sein. Doch Selbstmord ist wohl immer populärer geworden, und irgendwann waren die Wälder so zugewachsen, dass es gar keinen Platz mehr für neue Büßerbäume gab. Daraufhin wurden alle neuen Selbstmörder in die Seen verbannt. Die Kiemen zwingen sie, das siedende Wasser einzuatmen, wollen sie nicht ersticken.« Er wandte sich ab und lief durch brusthohes Schilf den Hügel hinauf. Ich folgte ihm auf dem Fuß, weg von den erbarmungswürdigen Gesichtern im Wasser.
Wir wanderten entlang des schmalen, abschüssigen Wiesenstreifens mehrere Kilometer weit in Richtung Limbus, bis ein schlankes, pfeilerartiges Gebilde zu erkennen war, das wie eine Zierleiste an der Felswand angebracht war. Es sah aus wie der Fallschacht für eine Wasserturbine.
»Könnte ein Aufzug sein«, überlegte Byron. »Nur verdammt weit weg.« Er blieb stehen und schien abzuwägen, ob es der Mühe lohnte, dann sagte er: »Wenn wir erst im Wald sind, könnten wir leicht die Orientierung verlieren. Die Baumkronen bilden ein geschlossenes Dach, durch das wir den Limbus nicht mehr sehen werden. Einer von uns müsste ständig auf einen Baum klettern, um die Richtung festzustellen …«
»Das wäre machbar.«
»Natürlich, aber die Verdammten mögen es gar nicht, wenn man auf ihren Baumkörpern herumklettert. Könnte passieren, dass du dir vom einen oder anderen Ast einen heftigen Schwinger fängst.«
Der
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