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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Wald erwies sich zu Beginn als weniger undurchdringlich als zunächst befürchtet, doch dafür machte uns der Boden zu schaffen. Nur mühsam fanden wir unseren Weg über schlüpfrige, von Moder verborgene Felsen. Bei jedem Schritt legten sich Lianen und Luftwurzeln wie Fesseln um unsere Beine, und immer wieder rutschte ich auf armlangen, wurmartigen Kreaturen aus, die dick wie Schläuche waren und wie Perlmutt schillerten.
    »Idyllisch hier«, entfuhr es mir, nachdem zum wiederholten Mal ein glitschiger Leib unter meinen Sohlen schmatzte und in wilder Agonie zu peitschen begann.
    »Für viele in der Stadt wäre das hier der Himmel«, entgegnete Byron. »Aber sieh dich vor: Hier gibt es fleischfressende Käfer, die so groß sind wie dein Oberschenkel, und Ameisen, die ihnen um nichts nachstehen. Alles, was der Mensch aus tiefster Seele hasst und fürchtet, ist in diesem Wald vereint. Wir müssen auf der Hut sein.«
    Ich fröstelte trotz der Schwüle. Byron – seine umfassende Ortskenntnis in Ehren – hatte ein erschreckend zynisches Gespür für ›Annehmlichkeiten‹. Ich lief vorsichtiger, studierte aufmerksam meine Umgebung und bemühte mich, nichts mehr zu zertreten.
    »Ernsthaft zu fürchten haben wir nur die Riesen«, erklärte Byron, der sich an meiner Befangenheit ergötzte. »Sie reagieren äußerst ungehalten, wenn man ihr Territorium betritt.« Er stakste wie ein Storch über ein Rudel zahnbewehrter Nacktschnecken hinweg. »Und wenn das in der Ferne tatsächlich ein Aufzug sein sollte, dann kannst du sicher sein, dass zumindest einer der Giganten ihn bewacht.«
    Eine der Schnecken verbiss sich im Stoff meiner Hose. Ich musste einen Veitstanz aufführen, um sie abzuschütteln, ehe sie mein Bein umschlingen und ihre Zähne höher gelegene Regionen erreichen konnten.
    Aus der Rinde der Bäume schien ein stetes Raunen und Wispern zu dringen, ein Säuseln und Murmeln, Klagen und Lamentieren. Es klang wie das ehrfurchtsvoll gedämpfte Geflüster in einer Kirche vor dem Beginn der Predigt. Ab einem gewissen Zeitpunkt verfluchte ich unsere Entscheidung, den Wald betreten zu haben, und wünschte mir eine Machete, mit der ich um mich schlagen konnte. So musste ich mit einem dicken, morschen Knüppel vorlieb nehmen, den ich misstrauisch vom Boden auflas.
    »Warum verteidigen die Bene Elohim die Liftanlagen?«, fragte ich.
    »Damit niemand auf den Limbus gelangt, nehme ich an.«
    »Spräche das nicht für meine Vermutung, dass die Ausgänge dort oben sind?«
    Byron zuckte mit den Schultern. »Wir werden sehen.«
    Von den mit Blüten überwucherten Ästen hingen die Bartflechten wie Vorhänge herab. Die Baumriesen, die uns umgaben, waren eingepackt in kubikmetergroße, kugelförmige rote, gelbe und grüne Moospolster, in denen wiederum zahlreiche Farne, Flechten und fleischfressende Pflanzen wurzelten. Der ganze Wald war wie ein Schwamm, voll gesogen mit Feuchtigkeit. Auf den wenigen Lichtungen, die unter dem Baumkronendach noch geblieben waren, wuchsen monströse Blumen, deren Blütenköpfe unseren Bewegungen folgten, sobald wir unter ihnen vorüberschritten. Wespen, groß wie Enten, umschwirrten uns, ließen sich auf den Blumen nieder oder verschwanden brummend im Dickicht. Mancherorts hatten sich haushoch Pflanzenleichen übereinander gestapelt, und zwischen Wurzeln und moosüberwucherten Felsen taten sich tiefe Klüfte auf. Alles war so riesig und unirdisch, dass ich mich wie ein Käfer fühlte, der durch die Grassavanne krabbelte. Stellenweise kämpften wir uns auf allen vieren über umgestürzte, verfaulende Blumenstängel, immer in Gefahr, abzurutschen und im Moder zu versinken. Wir krochen durch ein Labyrinth aus niedergebrochenen Stämmen und Ästen, über Wurzeln und mit Moos bedeckte Felstrümmer und schließlich über federnden Morast. Mannshohe Grasbüschel wölbten sich über einem Meer farbiger Thalluspflanzen, unter denen sich bodenloser Schlamm verbarg. Zunächst versuchten wir von Buckel zu Buckel zu springen, doch vergebens. Von unsichtbaren Fußangeln gepackt, blieben wir immer wieder bis über die Knie im Morast stecken. Ich hatte irgendwann das Gefühl, in Moosen zu ertrinken, eingeschlossen von Pflanzenmasse, die mich absorbierte.
    Nachdem wir einen von Hunderten kleiner Wasserfälle überströmten Steilhang bezwungen und den Marsch durch zweieinhalb Meter hohe Strohblumenwiesen fortgesetzt hatten, erreichten wir – am Ende unserer Kräfte, in völlig zerfetzter Kleidung und von blutigen

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