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Morphogenesis

Morphogenesis

Titel: Morphogenesis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Luftschwall, beißender Gestank machte das Atmen schier unerträglich. Ein bläuliches Glühen herrschte jenseits des Hains, und ich vernahm ein Branden und Plätschern. Auf der anderen Seite lehnte ebenfalls eine Leiter, die zu einem breiten, dschunkenähnlichen Boot hinabführte, das auf einem großen See schwamm. Viel mehr konnte ich aus meiner Lage unter der Chronerachsel nicht erkennen – doch eines nahm ich mit Entsetzen wahr: Das Wasser des Sees brannte!
    Meterhohe, blaue Flammen hüllten das unter uns treibende Schiff ein. Die zunehmende Hitze versengte meine Haare und drohte, meine Haut zu rösten.
    »Nein!«, schrie ich und begann, um mich zu schlagen. »Nicht ins Feuer! Bitte nicht ins Feuer!«
    »Bist du wohl still?«, schnauzte Kreuzbeißer, der unter mir kletterte. »Wir werfen dich schon nicht rein.«
    Ich schloss die Augen, biss die Zähne zusammen und betete, sie mögen sich beeilen. Dann ließ mich Marderkralle los, und ich schlug hart auf die Planken des Schiffes.
    »Wen habt ihr denn da mitgebracht?«, vernahm ich die Stimme eines vierten Chroners, der auf dem Boot zurückgeblieben sein musste. »Ist der zum Spielen oder zum Baden?«
    »Weder noch, Schlangenschwanz«, erwiderte Rabendorn, der nun ebenfalls das Deck erreicht hatte. »Der will nur mal einen Blick hinter sein Gehege werfen. Ein Günstling Merets.« Der Name ließ mich kurz aufhorchen, doch es gab keine Gelegenheit, mir darüber Gedanken zu machen. Ich vernahm ein hässliches Geräusch, dann polterte etwas zu Boden. »Der hier ist zum Baden!«
    Sie hatten Ben Sira von dem Stunder gezogen wie ein Schaschlikstück vom Spieß. Der Ärmste musste Höllenqualen leiden. Er rollte sich auf den Planken zusammen und blieb zitternd liegen. Ich wandte meinen Blick von dem Bild des Elends ab und sah über das brennende Wasser.
    »Warum fängt das Schiff kein Feuer?«, wunderte ich mich.
    »Na, weil es unser Schiff ist!«, schnappte Schlangenschwanz.
    Die Hitze war unerträglich, jeder Atemzug drohte meine Lungen zu verbrennen. Wir trieben am Rande einer Bucht oder eines Hafenbeckens, einem Gebiet, das ich von meiner Turmwarte aus am wenigsten erwartet hätte, hinter der Mauer vorzufinden. Verrottende Schiffe lagen in der Ferne vor Anker, von frühzeitlichen Drachenbooten über römische Galeeren und Karavellen der Renaissance bis zu den Kriegsschiffen, Frachtern, Supertankern und Luxusdampfern der Neuzeit. Auch ihnen schien das Feuer nichts anhaben zu können.
    Eines der Schiffe erregte meine besondere Aufmerksamkeit. Ich hätte es sogar erkannt, wenn es kieloben im Wasser getrieben wäre: die Titanic!
    Nein, es musste ein Nachbau der Titanic sein, die dort zwischen einem deutschen Panzerkreuzer und einer englischen Dreadnought vor Anker lag. Oder ihr Schwesterschiff, die Olympic. Mein Herz klopfte wie wild, als ich meinen Blick über das gegenüberliegende Ufer der Bucht schweifen ließ. Rumpf an Rumpf lagen dort längst in lichtlosen Tiefen ruhende Legenden vor Anker, maßstabsgetreu reproduziert und wie im Freilichtmuseum präsentiert, hundertweise, ein das Hafenbecken umgebender Kranz aus Totenschiffen.
    »Nett, was?«, fragte Schlangenschwanz, der sich neben mir aufgebaut hatte und mich interessiert musterte. »Was für eine erbärmliche Verschwendung von Talent. Siehst du den Dreidecker dort hinten?« Er wies mit seiner Kralle an eine entferntere Stelle der Bucht.
    »Ja«, antwortete ich, mein Gesicht vor der Hitze schützend.
    »Das ist die Sovereign of the Seas. Phineas Pett baute sie für Karl I., seinen Herrn. Übermenschliche Größe und göttliche Würde sollte ihr Prunk vermitteln, Edelmut und gottgewollte Sieghaftigkeit. König Karl nützte es wenig, man schlug ihm den Kopf ab. Das Schiff selbst verbrannte vor Chatham, weil jemand vergessen hatte, eine Kerze in einer Kabine zu löschen. War dieses Schiff nicht eine unglaubliche Verschwendung?«
    »Nun ja …«
    »Natürlich war es Verschwendung, du Pfeife!«, donnerte der Chroner.
    »Beruhig dich, Schlangenschwanz«, rief Kreuzbeißer. »Hilf mir lieber mal mit dem guten Ben!«
    Schlangenschwanz knurrte etwas Unverständliches und lief zu dem Menschenbündel, das trotz seiner zweifellos tödlichen Verletzungen immer noch lebte. Kreuzbeißer und er beugten sich über Ben Sira, packten ihn an Händen und Füßen und hielten ihn in die Höhe. Der Unglückliche begann auf Arabisch zu Jammern und zu Wehklagen, dann geschah etwas, das mein Blut in den Adern gefrieren ließ: Rabendorn

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