Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
Vom Netzwerk:
denn natürlich war der Strom ausgefallen, und im Treppenhaus, einem schmalen Schacht, war es auch untertags dunkel. So sah er sie zum ersten Mal. Eine Erscheinung wie aus einem Theaterstück oder – ja eben – aus einem Film. Er versuchte einige Worte zu sagen, in seinem armseligen, zwischen der Landung in Palermo und der vorläufigen Stationierung in Bolsena aufgeschnappten Italienisch.
Don

t trouble yourself
, sagte sie,
we can speak English
.
    She probably saved my life
, wiederholte Mortimer. Denn wo sonst hätte er so rasch Unterschlupf gefunden? Aber damit habe sie
ihr
Leben riskiert. Hätten die
Krauts
durchschaut, dass sie ihn versteckt hatte, sie hätten sie an die Wand gestellt.
    Etwas hatte sich auf seine Stimme gelegt. Er räusperte sich. Er trank den letzten Schluck, der in seinem Glas war. Wirkte auf einmal sehr müde.
Excuse me
, sagte er. Und stand auf und tauchte aus dem Licht der Laterne, an der die Nachtschmetterlinge verbrannten, ins Dunkel.
    Marco und Julia nahmen zuerst an, er sei auf die Toilette gegangen. Aber er kam verdächtig lang nicht zurück. Vielleicht waren die Pilze und das Wildschwein so spät am Abend doch etwas zu schwer für den Magen eines Mannes in seinem Alter. Und fraglos hatte er etwas zu viel getrunken.
    Schließlich gingen sie ihm nach, um ihm gegebenenfalls zu helfen. Auf der Toilette war er nicht oder nicht
mehr
, aber dahinter lag eine vom Mondlicht beschienene Wiese. Dort sahen sie ihn zuerst als großen Schatten. Da stand er mitten im Zirpen zahlloser Grillen.
    Sie näherten sich ihm vorsichtig. Er hatte den Kopf extrem in den Nacken gekippt. So stand er und schaute in den gestirnten Himmel.
    Tutto okay, Mister Mortimer?
    Er schnaubte und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase.
    Tutto okay
, sagte er.
Tutto va bene. Vivo.
    Julia versuchte ihm schonend beizubringen, dass es vernünftiger wäre, für den Rückweg Marco ans Lenkrad zu lassen. Aber davon wollte er trotz der netten Aussicht, an ihrer Seite im Fond zu sitzen und vielleicht, den Kopf an ihre Schulter gelehnt, ein wenig zu schlummern, nichts wissen. Keine Angst, sagte er und kippte, die Augen zusammengekniffen, mit Todesverachtung noch einen Caffè Corretto. Ich bin Pilot. Ich bringe Sie sicher zurück.
    Und tatsächlich – er schaffte das irgendwie. Allerdings war er dabei sehr wortkarg, gab kaum mehr Antwort auf die Fragen, die sie ihm, bei allem Interesse an seiner Geschichte, jetzt vor allem stellten, um ihn wach zu halten, sondern richtete seine ganze Konzentration auf die vor ihnen liegende Fahrbahn. Im Geist betete Julia ein bisschen, und womöglich trug ja auch das dazu bei, dass sie nicht in irgendeinen Abgrund stürzten. Nur einmal, als ein Fuchs über die Straße lief, dessen Augen im Scheinwerferlicht grotesk aufleuchteten, geriet der Wagen ein wenig ins Schlingern.
10
    Am nächsten Morgen stand Mortimer nicht am Fenster. Sie drehten sich um, als sie über die Piazza Richtung Park gingen, aber da war er nicht zu sehen. Vielleicht schläft er noch, sagten sie zueinander. Die Kirchturmuhr hatte zwei geschlagen, als sie Gott sei Dank heil in San Vito angekommen waren.
    Sie gingen in den Park wie all die Vormittage davor. Und all jene Tage hatte sie die raffinierte Schönheit der Anlage beeindruckt. Und doch war der Anblick dieser hintergründigen Harmonie inzwischen fast schon zur Selbstverständlichkeit geworden. An diesem Vormittag aber sahen sie alles unter einem neuen Aspekt.
    Hier war die Stelle, an der Mortimer gelandet war. Und dort war das Haus, in dessen Gewölbe er Zuflucht gesucht hatte. Marco probierte, in wie viel Sprüngen er die Distanz schaffte. Aber er war sicherlich nicht so gut trainiert wie Mortimer im Jahr 1944.
    Dann hielten sie sich eine Weile im Gewölbe auf. Die vordere Hälfte war von der Vormittagssonne beleuchtet, die hintere lag im Schatten. In diesem Schattenbereich stellten sie sich Mortimer vor. Marco kauerte sich in einen Winkel. Ja, sagte er. Etwa so.
    Und da hinten musste auch eine Tür sein. Die Tür, durch die Miss Molly gleich treten würde. Genau. Da war sie, die Tür. Doch sie war verschlossen. Durchs Schlüsselloch sah man nichts als Finsternis.
    Aber genau dort ging die Geschichte weiter. Im Dunkel hinter dieser verschlossenen Tür. Da musste die Treppe sein, über die Miss Molly heruntergestiegen war. Und wahrscheinlich war Mortimer, als sie wieder hinaufgestiegen war, hinter ihr hergegangen.
    An diesem Vormittag begann es: das Fantasiespiel,

Weitere Kostenlose Bücher