Mortimer & Miss Molly
geschlagen. Damals, als für ein paar Tage niemand beim italienischen Heer recht wusste, wie alles weitergehen sollte. Ich weiß es auch nicht,
ragazzi
, hatte der Kommandant seiner Truppe, die in der Nähe von Bologna stationiert war, gesagt. Ich habe bis auf weiteres keine Befehle – ich kann euch also weder nötigen zu gehen noch zu bleiben.
Das war fast eine Empfehlung. Und man tat gut daran, ihr rasch zu folgen. Am nächsten Tag schon besetzten die Deutschen die italienischen Kasernen. Fantini und einige seiner Kameraden, die aus derselben Gegend stammten wie er, setzten sich also ab, besorgten sich Zivilkleidung und warfen ihre Uniformen in den Straßengraben. Doch danach, als Mussolini befreit und die Republik von Salò ausgerufen war, dieser Marionettenstaat von Hitlers Gnaden, hätten sie nichts Dümmeres tun können, als vorschnell in ihre Heimatgemeinden zurückzukehren und sich wieder einfangen zu lassen.
Aber was ging das Marco und Julia an? Ich war damals nicht hier, sagte Fantini, auf Details ließ er sich nicht ein. Und auch sonst war um diese Zeit kaum jemand im Ort. Mai, Juni 44? So gut wie ganz San Vito war damals in der
Macchia
.
Über Miss Molly redete Fantini etwas bereitwilliger als über Mortimer. Miss Molly, natürlich!
L
’
insegnante inglese
. Die Englischlehrerin und Gouvernante der Bianchis.
Una persona un po’ strana
. Eine etwas merkwürdige Person.
Sie habe schon vor dem Krieg dort drüben im Mauerhaus gewohnt. Und nach dem Krieg bis in die Sechzigerjahre. Einerseits habe man den Eindruck gehabt, sie sei schon ewig da. Anderseits sei sie immer eine Fremde geblieben.
Una straniera
. Als Fantini das sagte, fiel Julia zum ersten Mal der Zusammenhang zwischen dem Wort
strano
und dem Wort
straniero
auf. Sie schlug im Diktionär nach und fand ihn bestätigt. Unter
strano
stand:
sonderbar
,
seltsam
, unter
straniero: ausländisch
,
fremd
. Miss Molly war anscheinend eine besonders seltsame Fremde.
11
Eine immer weiß gekleidete Dame, erinnerten sich Pietro und Bruna, zu denen sie nach wie vor am liebsten frühstücken gingen. Etwas Schwebendes sei ihr eigen gewesen. Etwas
Vorbei
schwebendes, denn natürlich habe sie das Lokal nie betreten. Allerdings habe sie genickt, wenn man sie gegrüßt habe.
Leutselig? Nein, sagte Bruna, sie hat ganz einfach genickt. Kurz nach links oder rechts habe sie genickt, je nachdem, aus welcher Richtung sie gekommen sei. Arrogant? Nein, sagte Pietro, ich glaube, sie war nicht arrogant, sondern eher scheu. Sie habe genickt und dann rasch wieder geradeaus geblickt.
Auch Antonio, der
tabaccaio
mit den lustigen Augen, hatte Miss Molly aus einer spezifischen Perspektive in Erinnerung. Er habe sie immer nur im Park gesehen. Nein, der Park war damals, in den Vierzigerjahren, lang noch nicht frei zugänglich. Aber er und seine Freunde hätten die Gouvernante durchs Schlüsselloch des großen Tors beobachtet.
In der zentralen Allee des Parks sei sie auf und ab gegangen, vom Januskopf bis ans Tor und wieder zurück. Meist habe sie ein Buch in den unter weißen Handschuhen versteckten Händen gehabt und darin gelesen. Sie selbst habe ja ausgesehen wie aus einem Buch, wie eine Fee aus einem alten Märchenbuch. Aus einem dieser alten Märchenbücher mit den durch feines Seidenpapier geschützten Bildern.
Una persona un po’ fuori dal tempo
, sagte Paolo, der kleine Fotograf, bei dem Marco die Filme für die
Minolta
kaufte und entwickeln ließ. Julia überlegte, was das hieß. Eine Person etwas aus der Zeit? Mit anderen Worten: eine etwas anachronistische Figur? Aber wenn sie es so übersetzte, ging die ganze Poesie dieses Satzes verloren.
Jedenfalls war Miss Molly offenbar eine ortsbekannte Person. Sie hatte jahrzehntelang hier gelebt, sie war hier gestorben, man erinnerte sich an sie. An Mortimer hingegen erinnerte sich kaum jemand. Auf ihn angesprochen, schüttelten die meisten nur den Kopf.
Mortimer ... Mortimer ...? Wer soll denn das sein ...? Ein Amerikaner? Der im Albergo gewohnt hat? Und zwar wiederholt? Manchmal sogar monatelang? So unwahrscheinlich das Marco und Julia auch vorkam, man hatte Mortimer hier kaum wahrgenommen.
Was für ein eigenartiges Phänomen! Ein Mann, der im Lauf der Jahre wahrscheinlich Hunderte Stunden dort oben am Fenster im zweiten Stock des Hotels zugebracht hatte, ein Mann von ziemlich charakteristischem Aussehen, war von den Leuten einfach nicht gesehen worden. Allerdings erinnerten sich Marco und Julia, dass sie ihn in den
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