Mortimer & Miss Molly
ersten zehn Tagen ihres Aufenthalts auch nicht wahrgenommen hatten. Vielleicht hatte dieser Mann die Gabe, trotz seiner massiven Physis übersehen zu werden.
Womöglich hatte ihm das ja damals geholfen. Damals, im Kriegsjahr 1944. Als er in Mollys Mauerhaus Zuflucht fand. Denn da ging es ja darum, fürs Erste möglichst spurlos zu verschwinden.
Zwei
1
Dass Mortimer einfach weg sein sollte, nachdem er für sie einen Abend, ja eine halbe Nacht lang so präsent gewesen war, damit wollten sich Julia und Marco nicht so ohne weiteres abfinden. Dass er ihnen seine Geschichte zu erzählen begonnen hatte und sie jetzt nicht, wie versprochen, weiter erzählen würde ...
To be continued
– ja, wann denn, bitte, und wie? Die ersten Tage nach seinem Verschwinden waren sie ratlos. Aber damit sollte es nicht sein Bewenden haben.
Sie würden mit ihm Kontakt aufnehmen, ihm schreiben. Ja, genau. Das war eine Perspektive. Sie würden ihm schreiben, und er würde ihnen antworten. Schließlich hatte er doch selbst Wert darauf gelegt, ihnen seine Geschichte zu erzählen.
Die Geschichte von Mortimer und Molly, sagte Marco.
Die Geschichte von Molly und Mortimer, sagte Julia.
Eine Liebesgeschichte? Aber natürlich eine Liebesgeschichte.
Eine ganz außergewöhnliche Liebesgeschichte.
Auch wenn Fantini nichts davon wissen wollte.
Che storia pazzesca!
, sagte er. Was für eine verrückte Geschichte! Da hat Ihnen dieser Ami ein Märchen erzählt.
Una storia impossibile!
Eine unmögliche Geschichte!
Geradezu verärgert wirkte er, wenn sie wieder darauf zu sprechen kamen. Schluss jetzt, basta, er wolle nichts mehr davon hören! Sie fragten ihn wiederholt nach Mortimers Adresse. Aber er wollte sie ihnen partout nicht geben.
Sein Verhalten in diesem Zusammenhang war merkwürdig. Einmal behauptete er, dass er die Meldescheine nicht mehr finde, das andere Mal, dass er die Adresse, die Mortimer darauf eingetragen hatte, beim besten Willen nicht mehr lesen könne. Den Vorschlag, Marco und Julia einen Blick darauf werfen zu lassen, wolle er, sagte er, lieber nicht gehört haben. Das erschiene ihm als mit seinem Selbstverständnis als
albergatore
unvereinbare Indiskretion.
Sie hätten ja einfach auf die
comune
, das Gemeindeamt, gehen und nach der Heimadresse des Hotelgastes Mellows fragen können. Dort mussten die Aufenthaltsmeldungen theoretisch aufliegen. Aber sie waren nicht sicher, ob man ihnen die gewünschte Auskunft dort so ohne weiteres geben würde. Und vor allem wollten sie Fantini für den Fall, dass mit den Meldescheinen seines langjährigen Gastes irgendetwas nicht stimmte (vielleicht, überlegten sie, verhielt es sich ja so, dass er Mortimer manchmal zu spät oder überhaupt nicht angemeldet hatte), nicht in Schwierigkeiten bringen.
Es würde sich schon noch etwas anderes ergeben, sie würden Mortimers Adresse schon noch herauskriegen. Vorläufig aber waren sie, wenn ihnen seine Geschichte in den Sinn kam (und das tat sie schon deshalb, weil Marco diese Geschichte natürlich für die ideale Drehbuchgeschichte hielt: genau die Art von Geschichte, auf die er gewartet habe!), auf ihre Fantasie angewiesen. Auf ihre Fantasie und ihre Empathie. Manchmal hatten sie den Eindruck, der wirklichen Geschichte recht nahe zu kommen.
Sie versuchten, sich alles möglichst genau vorzustellen. Natürlich hätte es ihnen dabei geholfen, wenn das Mauerhaus zugänglich gewesen wäre. Aber das war es nicht: Das Haus, das im Unterschied zum
giardino
nach wie vor der Familie Bianchi gehörte, stand seit Jahren, vielleicht sogar schon seit dem Tod von Miss Molly, leer. Die noch lebenden Mitglieder der Familie hatten ihren Wohnsitz, nachdem sie die Auseinandersetzung um den Garten endlich doch verloren hatten, indigniert ins Tessin verlegt, nur manchmal schickten sie ein Putzkommando, aber wann das zum nächsten Mal der Fall wäre, ließ sich, nach allen Auskünften, die sie darüber bekamen, nicht voraussagen.
Schwere Riegel und Schlösser an den Türen. Es gab ja mehrere. Nicht bloß die unten, im Gewölbe, durch die Miss Molly Mortimer eingelassen hatte. Marco überlegte, ob sich mit den entsprechenden Werkzeugen nicht das eine oder andere von diesen Schlössern öffnen ließe – war da nicht ein Geschäft für Haushaltsgeräte und Eisenwaren etwas außerhalb der Stadtmauer, in dem man so etwas wahrscheinlich problemlos bekommen würde? Aber Julia brachte ihn von diesem Gedanken ab. Sie habe keine Lust, diesen Urlaub hinter Gittern zu beenden.
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