Mortimer & Miss Molly
Manche Szenen, davon war sie überzeugt, ließen sich durch pure Intuition evozieren.
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Wie Mortimer hinter Miss Molly die Treppe hinaufsteigt.
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, hat sie gesagt, und das tut er nun. Sie trägt die Lampe, aber er sieht nicht viel. Sieht nur jeweils das Stück Mauer oder Decke, das gerade vom Licht gestreift wird.
Wahrscheinlich geweißte Wände, geweißter Plafond. Ein Treppengeländer aus mutmaßlich dunklem Holz. Die Treppe ist ziemlich steil. Und das Treppenhaus ist eng. Mit dem in aller Hast zusammengefalteten Fallschirm ist es nicht leicht, hier durchzukommen.
Die Frau vor ihm geht sehr aufrecht, Stufe für Stufe. Während
er
sich ein wenig duckt, weil er die Dimensionen des Treppenhauses noch nicht recht abschätzen kann. Viel mehr von ihr nimmt er unter den bestehenden Lichtverhältnissen nicht wahr. Sie trägt das Licht, aber sie selbst sieht er in dieser Situation eher nur als Schatten.
Was er von ihrem ersten Anblick unten im Gewölbe behalten hat, ist eher flüchtig: eine schmale Frau, vielleicht einen Kopf kleiner als er. Eine Frau, deren Schultern sich möglicherweise ein bisschen eckig unter dem schlichten, grauen Kleid abzeichnen. Dass sie im Haus so umherläuft wie draußen, als weiße Wolke, ist unwahrscheinlich.
Miss Molly also in Grau. Scheinbar unscheinbar. Er geht hinter ihr her. Nimmt eine Stufe nach der anderen. Mortimer, ein unerwarteter Gast mit sperrigem Gepäck. Die Lampe verbreitet einen starken Geruch nach Petroleum.
Sie geht ihm voraus. Sie spürt diesen Mann hinter sich. Vielleicht ist sie ja verrückt, denkt Molly, dass sie ihn hereingelassen hat.
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, hat sie gesagt, was ist ihr bloß eingefallen? Er hat einen schweren Schritt in den klobigen Schnürstiefeln.
Was soll sie denn nun mit diesem Menschen tun (einmal angenommen, er tut
ihr
nichts)? Sie kann ihn nicht einfach bei sich einquartieren. Die Deutschen haben seine Maschine abgeschossen, sie ist irgendwo dort drüben, in den
crete
, zerschellt. Aber werden sie ganz einfach davon ausgehen, dass nichts von ihm übrig geblieben ist?
Eher unwahrscheinlich. Sie werden ihn suchen. Vielleicht werden sie ihn nicht zuallererst bei ihr suchen, es sei denn, sie haben, Gott behüte, seine Landung im
giardino
beobachtet, aber dann wären sie wahrscheinlich schon da. Vielleicht haben der Absturz und die Detonation ihre Blicke für ein paar entscheidende Sekunden abgelenkt. Und trotzdem: Damit dass sie ihn suchen werden, muss sie rechnen, und wenn sie dann letzten Endes auch an ihre Tür klopfen – was dann?
Sie muss ihn perfekt verstecken, diesen Mann. Diesen Mann, von dem sie jetzt, da sie ihm voraus die Treppe hinaufsteigt, noch gar keine rechte Vorstellung hat. Denn was hat sie denn unten, im Gewölbe, von ihm gesehen? Einen großen Kerl, dessen Gesicht unter dem Helm mit dem Netz mit Farbe beschmiert ist, Tarnfarbe oder Kriegsbemalung.
Sie muss ihn perfekt verstecken – aber wo? Dass sie mit ihm weiter und weiter hinaufsteigt, Stufe für Stufe für Stufe, ist das nicht eine Kurzschlusshandlung? Worauf läuft denn das hinaus, wo soll denn das enden, oben im Taubenschlag? Wäre es nicht klüger, mit ihm unten zu bleiben, wo es ein paar Kellerräume gibt, Magazine, in denen sich früher, solange noch Frieden war, die Gärtner umgetan haben?
Aber würden die Deutschen, angenommen, sie kämen auf die Idee, dass sich jemand bei ihr im Mauerhaus versteckt hält, ihn nicht gerade dort, im Keller, zuallererst suchen? Und wäre es richtig, wenn sie, eine gute anglikanische Christin, einen Menschen, der ihre Hilfe braucht, einfach dort unten deponierte? Wo sie selbst nie hingeht, weil sie solche Räume, in denen sie nicht nur von jahrzehntealtem Staub verfilzte Spinnweben vermutet, sondern auch allerlei ekelhaftes Getier, einfach nicht aushält. Und wie sollte sie ihn denn versorgen, wenn er dort unten im Dunkeln säße – sie müsste sich ja jedes Mal, wenn sie ihm etwas zu trinken oder zu essen brächte, überwinden.
Jetzt sind sie im zweiten Stock angelangt, auf der Etage, die Miss Molly bewohnt. Und wenn es nun einmal so ist, denkt sie, dass sie diesen Mann hier heraufgebracht hat, weil ihr nichts Besseres eingefallen ist, so wird es schon seine Richtigkeit haben. Und hier oben ist Tageslicht, das durchs Fenster fällt, das sie nicht verdunkelt hat, Miss Molly, nicht nur anglikanische Christin, also eine Frau mit Gottvertrauen, sondern auch Fatalistin. Und sie löscht das Petroleumlicht aus und dreht sich nach dem
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