Mortimer & Miss Molly
Mann um, der brav hinter ihr hergegangen ist, immer noch mit dem schlecht und recht zusammengefalteten Fallschirm unter dem Arm, und jetzt sieht sie ihn schon etwas genauer.
Verschwitzt ist er und dreckig, das sieht sie nicht nur, nein, das riecht sie auch. Bestimmt hat er Durst. Sie wird ihm also zuerst ein Glas Wasser anbieten. Er soll endlich den blöden Fallschirm ablegen, jetzt lässt er ihn fallen, na also, und ergreift das Glas mit beiden Händen. Und diese Hände, braungebrannte Hände mit erstaunlich schwarzen Fingernägeln, zittern, der Schock, die Anstrengung, die Anspannung, das alles sitzt diesem Mann noch deutlich in Leib und Seele und löst sich erst allmählich.
Und sie sieht ihn an. Und sie sieht ihm zu, wie er trinkt. Wie sich sein Kehlkopf bewegt, wie er das Wasser in sich hineinrinnen lässt.
Don
’
t stare
, hat ihre Mutter zu ihr gesagt, in einer Kindheit und Jugend, die nun schon sehr weit weg ist, aber diese Worte haben nachhaltig gewirkt. Ein braves kleines Mädchen, ein zur jungen Dame heranreifendes Mädchen wie du,
starrt
niemanden an, und schon gar keinen Mann.
Doch genau das tut sie nun, Mary Kinley, die sich immer noch Molly nennen lässt.
Miss
Molly zwar, aber dennoch, diese Form des Namens Maria hat etwas Verniedlichendes. Endlich ist die Gelegenheit da, sich über jenes mütterliche Gebot hinwegzusetzen. Sie steht diesem Mann gegenüber, der nun schon das dritte Glas Wasser trinkt (das Wasser rinnt nicht nur in ihn hinein, sondern auch an seinen Mundwinkeln herab), und sie starrt ihn an.
Oder nein, sie
starrt
nicht, das ist ein dummer Ausdruck, sagte Julia.
Don
’
t stare
. Warum denn die Angst, jemanden intensiv anzusehen? Sie sieht ihn aufmerksam, sieht ihn sorgfältig an. Sie sieht ihn. Und er sieht
sie
. Sie stehen einander vis-à-vis.
3
Ungefähr so. Auch das eine schöne Szene. Nach der ersten, allerdings fast unschlagbaren Szene mit Mortimers Landung. Eine schöne Szene für Marcos Film. Der zwar vorläufig nur in ihren Köpfen lief, aber warum sollte er nicht eines Tages tatsächlich über die Kinoleinwand laufen?
Klar, über die Rechte an diesem Stoff mussten sie sich mit Mortimer einigen. Dessen Adresse sie, Fantinis Widerstand zum Trotz, schließlich doch noch herausbekamen. Die Gelegenheit dazu ergab sich eines schönen, heißen Nachmittags. Als der
padrone
wieder einmal Siesta hielt.
Sie hörten ihn schnarchen, als sie am Rezeptionspult im ersten Stock vorbeigingen. Das Zimmer, in dem er schlief, war nur ein paar Meter von dort entfernt. Und Marco erfasste die Gunst der Schlummerstunde. Kurz entschlossen trat er hinter das Pult und begann im Registerbuch zu blättern.
In diesem Registerbuch war der Gast von Zimmer 9 zwar eingetragen, aber tatsächlich ohne Adresse. Wie sich allerdings bei einem Blick in die Lade des Pults herausstellte, war dieses Buch keineswegs das einzige. Marco blätterte und blätterte, während Julia auf halbem Weg zu Fantinis Zimmer postiert Schmiere stand und lauschte. Fantini hatte zu schnarchen aufgehört, doch seine Atmung klang nach wie vor nach Tiefschlaf.
So wurde Marco dann endlich doch noch fündig.
Ecco!
, flüsterte er.
Mellows Mortimer, Codice postale 55057, Northfield, Minnesota.
Der Name der Straße war allerdings schwer zu entziffern. Old Cats Road? Oder Old Nuts Road? Schließlich einigten sie sich darauf, dass es sich am ehesten um eine Old Dutch Road handelte.
Dear Mister Mortimer
, schrieben sie,
we were so sorry about your sudden departure
. Sie bedankten sich noch einmal für den schönen Abend in der
Osteria
. Von seiner Geschichte, die er ihnen freundlicherweise zu erzählen begonnen habe, seien sie noch immer beeindruckt.
We can
’
t get it out of our heads
, schrieben sie, und das war ganz einfach die Wahrheit.
Von Marcos Filmprojekt schrieben sie vorläufig nichts. Diesbezüglich war es vielleicht doch besser, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Das sparten sie sich für einen weiteren Brief auf. Für den Fall, dass Mortimer ihnen antworten würde.
Natürlich konnten sie nur hoffen, dass ihr Brief Mortimer überhaupt erreichte. Erstens konnte es sein, dass sie die Adresse doch nicht ganz richtig entziffert hatten, und zweitens musste sie, eingetragen in ein Registerbuch aus dem Jahre Schnee, natürlich nicht mehr stimmen. Doch vielleicht hatten sie Glück, und vielleicht gab es in einer relativ kleinen Stadt wie diesem Northfield Postboten, die einen Adressaten auch suchten und fanden, wenn er
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