Mortimer & Miss Molly
Michelangelo inspirierte Gartenarchitektur. Und alles lag und stand noch so da wie vormals.
Die trapezförmigen Beete, die kugelförmig geschnittenen Buchsbäume, die Steineichen im Hintergrund. Der Kreis, der aussah wie das Zentrum einer Zielscheibe. Und das schmale, perfekt in die Mauer eingepasste, aber durch den Taubenturm ein Stück aus der Mauer herauswachsende Haus ... Einen Moment lang sah es so aus, als würde sich ein Fensterflügel im zweiten Stock bewegen, aber das war bloß ein Lichtreflex, denn im selben Moment wurde in einem Haus auf der anderen Seite des Gartens, jenseits der nunmehr von kommunalen Gärtnern gepflegten Hecke, ein Fenster geöffnet oder geschlossen.
Und Marco filmte. So wie er im Vorjahr fotografiert hatte. Filmte und sprach leise, aber in einem sehr professionell wirkenden Tonfall, in ein in die Kamera integriertes Mikro.
Mortimers Landeplatz /
Gewölbe, in dem Mortimer Deckung sucht
/
Fenster, aus dem Miss Molly schaut
. Er tat das mit dem Elan eines neuen Anfangs.
Und filmend umkreiste Marco den Januskopf, der am Absatz der Treppe stand, die in den oberen Teil des Gartens führte. Und desgleichen den rudimentären Sockel des Turms, den die Deutschen im Juni 1944 gesprengt hatten. Und mit der Baskenmütze und der Windjacke, die er auch dieses Jahr bei fast jedem Wetter trug, sah er aus wie ein Filmemacher aus dem Bilderbuch. Ein piemontesischer Neffe von Godard oder Truffaut.
Und dann saßen sie am Steintisch, der auch noch immer an seinem Platz stand. Und Marco erklärte, wie er sich das weitere Vorgehen in Sachen Mortimer und Molly vorstellte. Natürlich würden sie ihre Gedanken zu dieser Geschichte weiterhin in das
quaderno
schreiben, das er im Vorjahr gekauft hatte, und wenn es vollgeschrieben sei, was bald der Fall sein könnte, würden sie ein neues kaufen. Doch darüber hinaus würde ihnen nun auch alles, was sich filmisch festhalten ließ, als Erinnerungshilfe dienen.
Das Reizvolle daran sei, dass man damit einen Teil des Films schon vorweg drehen könnte. Ja, sagte er, das Super-8-Material ließe sich später vielleicht in einen 16-mm-Film montieren. Natürlich haben wir jetzt noch nicht die Schauspieler, sagte er, die dann die Rollen von Mortimer und Molly spielen werden. Aber wir können die Inspirationsphase dokumentieren.
Außerdem gehöre seiner Ansicht nach nicht nur die Geschichte von Mortimer und Molly zum Film, sondern auch
ihre
Geschichte. Sodass es nur logisch sei, auch ihre Geschichte in den Film mit einzubeziehen. Wären sie nicht nach San Vito gekommen und hätten sie sich nicht im
Albergo Fantini
einquartiert, so hätten sie Mortimer nicht kennengelernt. Und hätten sie Mortimer nicht kennengelernt, so hätten sie nie etwas von seiner Geschichte mit Miss Molly erfahren.
Er halte es für richtig und wichtig, das transparent zu machen. Er filmte also das Auto, die Ente, aus allen möglichen Positionen. Und dann sollte Julia, die er zuerst auf dem Beifahrersitz gefilmt hatte (sowohl durch die Windschutzscheibe als auch durchs Seitenfenster), aussteigen und sich vorstellen.
Sono Julia
, sagte sie.
Sehr schön, sagte er. Aber sprich weiter.
Avanti!
Was soll ich denn sagen?, fragte sie. Diese Situation behagte ihr nicht besonders.
Sag einfach spontan, sagte Marco, was dir zu dir selbst einfällt.
Und da sagte sie irgendwas und dachte, dass man es ohnehin kaum verstehen würde. Erstens taugte das Mikro, so avanciert die Kamera samt ihrem Zubehör auch war, vermutlich doch nicht für spielfilmreife Tonaufnahmen und zweitens blies der Wind.
Und Marco drückte Julia die Kamera in die Hand und setzte sich ins Auto auf den Fahrersitz. Und sie sollte ihn filmen, wie er zuerst sie gefilmt hatte (im Profil und
en face
). Und dann stieg auch er aus und stellte sich dem imaginären Filmpublikum vor.
Sono Marco
, sagte er.
E amo questa ragazza
.
In den folgenden Tagen verbrauchte Marco sehr viel Super-8-Material. Er hatte die
Bolex
so gut wie immer dabei. Man könne nicht wissen, ob ihnen nicht irgendetwas begegnete, das auf die eine oder andere Weise zum Film gehöre. Und von dem Moment an, in dem man einmal so einen Film im Kopf und eine Kamera in der Hand habe, gehöre ja eigentlich fast alles dazu.
Strukturen im Straßenpflaster, die aussahen wie geheimnisvolle Schriftzeichen ... Im trockenen Lehmboden eines Feldwegs erstarrte Spuren wer weiß welcher Menschen und Tiere ... Ein abgestorbener Strauch, an dessen äußersten Zweigen noch zwei Blätter zitterten
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