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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
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Durchschnitt.
    Glücklich, dass sie so etwas wie die Flucht Mortimers und Mollys in die Macchia nicht selbst erleben mussten, sondern es nacherleben konnten als Geschichte. Als Geschichte, die sich mit jedem Schritt, den sie ihr nachgingen, vor ihnen auftat. Vielleicht kam es ihnen ja nur so vor, vielleicht liefen sie Phantomen nach, ihren eigenen Hirngespinsten. Aber unmöglich war es nicht, dass sie auf der richtigen Fährte waren, besonders in dieser Nacht.
5
    Der Mond hing als schmale Sichel über der Erde. Und die Erde vibrierte vom Zirpen der Grillen. Und der Himmel erschien ihnen nicht flach wie sonst, sondern als Gewölbe. Ein Himmel, wie er in alten Büchern stand.
    Sie gingen den Hohlweg, der an den Feldern entlangführt. Und da sahen sie tatsächlich die Glühwürmchen. Die Glühwürmchen, die Julia im Zug vor ihrem inneren Auge gesehen hatte. Sie schwebten im Brombeergesträuch, glitzernd wie winzige Strassdiamanten.
    Siehst du, sagte sie, da sind sie, ich hab es gewusst!
Lucciole
hießen diese netten Leuchtkäfer auf Italienisch. So viele
lucciole
, sagte Julia, wie schön! Marco lachte. Irgendetwas schien ihn zu amüsieren.
    Ja, sagte er, so viele gibt es nicht einmal im Bahnhofsviertel in Rom.
    Es dauerte eine Weile, bis sie begriff.
    Lucciole
hießen auf Italienisch auch die Prostituierten.
Una lucciola
(Singular),
molte lucciole
(Plural).
    Ecco
, sagte Marco. Das hast du bei deinem Fulvio nicht gelernt.
    Sie überging das. Die Glühwürmchen waren trotzdem schön. Nicht nur schön: Sie waren ein wahres Wunder. Nicht nur in den Brombeerhecken glitzerten sie, sondern auch in den Feldern.
    Und wie! Und wie viele! Unglaublich! Zahllose Glühwürmchen! Je mehr sich das Auge an die schöne Dunkelheit gewöhnt hatte, desto mehr von ihnen sah man. Und jetzt stell dir das bitte im Film vor – was für eine Szene!
Mortimer und Molly durch ein von Glühwürmchen übersätes Feld laufend
.
    Anfangs noch immer gebückt, noch immer mit der Angst im Nacken. Aber nach und nach immer entspannter, immer aufrechter. Und in Großaufnahme sieht man, wie Molly nach Mortimers Hand fasst oder Mortimer nach der ihren. Und den leichten Händedruck, mit dem sie einander bestätigen, dass sie es immerhin bis hierher geschafft haben, muss man buchstäblich spüren.
6
    Aber wo sollen sie jetzt hin? Damit, dass sie durchs Feld laufen, ist es ja nicht getan. Sie müssen irgendetwas finden, wo sie bleiben können. Gehöfte gibt es einige in der Nähe, aber sind sie weit genug vom Ort entfernt? Man darf sich nicht täuschen lassen, man darf sich nicht zu früh in Sicherheit wähnen.
    Es gibt Geschichten von Familien, die aus San Vito geflohen sind, um den Bomben, die dort bestimmt noch fallen würden, zu entgehen. Familien, die auch tatsächlich das eine oder andere
podere
in dieser Zone fanden, wo man sie freundlich aufnahm, obwohl schon viele da waren. In der Not muss man halt zusammenrücken, in schweren Zeiten erweist sich, was Gastfreundschaft und Solidarität wert sind. Sechs, sieben Familien in einem Haus, und wenn schon, die körperliche Nähe der anderen ist auch Hilfe in bangen Stunden.
    Es hatte also gar nicht so schlecht ausgesehen für diese Leute. Sie mussten nur noch eine Weile durchhalten. Natürlich war die Versorgung ein Problem, wo man doch rundherum kaum mehr was hatte. Aber man teilte das Wenige, das noch da war.
    Nur noch eine Weile durchhalten, bis die Alliierten kämen. Die würden zwar bombardieren, darauf musste man sich einstellen, aber doch nicht hier draußen – was sollte denn das für einen Sinn haben? Man würde mit halbwegs heiler Haut davonkommen, auch wenn man bei der Rückkehr in den Ort anstelle des Hauses, in dem man sein Lebtag gewohnt hatte, womöglich nur mehr eine Schutthalde vorfände.
Sopravvivere
, überleben, das war die Hauptsache.
    Aber dann kamen vor den Alliierten zuerst noch die Deutschen, und das war halt Pech. Die hatten zwar gar keine Zeit, den Familien, die sich da zusammendrängten wie eine verängstigte Schafherde, irgendwas unmittelbar Böses anzutun. Etwa unter den Männern, die durchaus nicht alle greis genug wirkten, um nicht mehr wehrfähig zu sein, nach Deserteuren zu suchen, sie entweder irgendwohin mitzunehmen oder auf der Stelle zu erschießen, was ihnen sonst durchaus zuzutrauen gewesen wäre. Nein, nein, das war ein schneller Trupp mit einem Flakgeschütz auf der Ladefläche eines Lastwagens. Diese Deutschen jagten die Leute zwar aus dem Haus, das sie selbst

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