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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
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hatten sie sich gerade danach gesehnt! Und sie umarmten einander mit aller Lust, die sie aufeinander hatten. Und es machte ihnen ebenso viel Freude wie im vergangenen Jahr.
    Und genau dort knüpften sie wieder an. Die Zeit dazwischen, mit all den Problemen, die sich durch ihre räumliche Trennung ergeben hatten, schien ihnen nun nebensächlich. Von hier aus kam sie ihnen viel kürzer und unbedeutender vor, als sie tatsächlich gewesen war. Hier konnte ihre Liebesgeschichte in ihrer schönen Selbstverständlichkeit weitergehen.
2
    Die Geschichte von Julia und Marco – aber wie war das mit der Geschichte von Mortimer und Molly? Natürlich kam ihnen jetzt auch die wieder in den Sinn. Zuerst hofften sie sogar, dass sie vielleicht von Mortimer selbst erfahren würden, wie es damit weitergegangen war. Aber als sie Fantini nach ihm fragten, erfuhren sie, dass der amerikanische Gast seit seiner abrupten Abreise im Vorjahr nichts mehr von sich habe hören lassen.
    Vielleicht hatten ihn die Schwierigkeiten, die man ihm wegen der Aufenthaltsbewilligung gemacht hatte, doch nachhaltig verärgert. Das wäre zwar traurig gewesen, aber verglichen mit anderen Möglichkeiten halb so schlimm. Sehen Sie, sagte Fantini, ein Mann in diesem Alter ... Einen Schlaganfall habe der Signore Mortimer jedenfalls schon hinter sich gehabt.
    Ich bitte Sie, sagte Marco, so etwas soll man nicht berufen! Übrigens: Ist nicht vielleicht ein Brief von ihm
an uns
da? Ein Brief, der möglicherweise schon vor Monaten angekommen ist?
    Nein, sagte Fantini. Wieso sollte er
Ihnen
denn schreiben?
    Das war enttäuschend. Und der Gedanke, dass Mortimer vielleicht gar nicht mehr lebte, war traurig. Aber auf diesen Gedanken wollten sich die beiden nicht wirklich einlassen. Sie wollten sich diesen Baum von einem Mann nicht gefällt vorstellen. Ihren alten Hemingway wollten sie lieber aufrecht stehend in Erinnerung behalten.
    Am Fenster stehend und in den
giardino
blickend. Am Fenster von Zimmer Nummer 9, das nun vergebens auf ihn wartete. Offenbar war es ebenso unbewohnt wie alle anderen Zimmer im zweiten Stock. Die Schlüssel hingen am Schlüsselbrett im Hochparterre.
    Von dort entwendeten sie den Schlüssel zu Mortimers Zimmer. Das taten sie keineswegs nur aus Übermut. Nein, es ging um Mortimers Perspektive. Wenn er schon selbst nicht da war, so wollten sie den Garten, in dem er gelandet war, wenigstens aus seinem Blickwinkel sehen.
    Gewissermaßen, so Marco, durch Mortimers Augen. Vermittelt durch das Kameraauge der
Bolex
. Ein Gerät, auf das er gewaltig stolz war. Die
Bolex
, ein Schweizer Erzeugnis, sei eines der avanciertesten Produkte, die es derzeit auf dem Super-8-Sektor gebe.
    Schau doch, wie schön sie ist, und wie gut sie in der Hand liegt! Ein edles Stück, das natürlich auch seinen Preis hat. Und ein Arzt, der seine Turnusjahre absolviert, ist ja noch lang kein Spitzenverdiener. Aber die
Bolex
habe ich mir geleistet, das war mir ein Bedürfnis.
    Nicht zuletzt, um sich selbst ein Zeichen zu setzen. Ein Zeichen, dass es ihm mit der Filmidee nach wie vor ernst sei. Und was seine Zukunft betreffe, sei ja das letzte Wort noch nicht gesprochen. Wer weiß, sagte er. Wir werden sehen, sagte er.
Chi sa, che sarà
.
3
    Sie schauten und filmten also aus Mortimers Fenster. Und dann hängten sie den Schlüssel ans Schlüsselbrett zurück und gingen über die Piazza Richtung Park. Und dieser Park lag wieder in seinem Dornröschenschlaf. Als wäre das
Unità
-Fest nie gewesen.
    Man betrat den
giardino
nicht einfach so, ohne Anlass. Was das betraf, waren die Leute von San Vito anscheinend immer noch gehemmt. Der Garten gehörte zwar nicht mehr exklusiv der Familie Bianchi, sondern der
comune
, und das waren ja eigentlich sie alle. Aber sie machten nur vorsichtig oder behutsam Gebrauch von diesem Besitz.
    Es gab Feste, die dort gefeiert wurden, und da war man gern dabei. Aber im Alltag blieb man lieber auf der Piazza. Die alten Männer saßen auf den Steinbänken, die den Eingang zum Garten flankierten, auch schon jetzt, am frühen Vormittag, als Marco und Julia quer über den Platz daherkamen. Sie nickten den beiden, an die sie sich anscheinend aus dem Vorjahr erinnerten, freundlich zu:
Entrate pure
, sagten sie, treten Sie nur ein, aber sie selbst blieben draußen.
    Marco und Julia traten erneut über die Schwelle. Und schon waren sie wieder drin in diesem magischen Bereich. Und wieder öffnete sich der Blick, raffiniert gelenkt durch die womöglich wirklich von

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