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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
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... Ein Baumschatten an einer Mauer, der aussah wie der Schatten einer Frau ... Ein im Wald einfach abgestelltes, ausgeweidetes und von Schlingpflanzen überwuchertes Auto ... In einem verlassenen Steinbruch unvermittelt am Abgrund endende Gleise ... Eine Ameisenstraße, die zu einem toten Vogel führte ... Lebendige Vögel, die in faszinierenden Formationen flogen.
    Eine auf zwei Stöcke gestützte, gebeugte Frau, die, schwarz vom Kopftuch bis zum bodenlangen Kittel, buchstäblich durchs Feld wehte ... Ein Mädchen in einem roten Kleid, das mit fast tänzerischen Bewegungen Wäsche an einer Leine befestigte ...
Portovino
, der Dorfalkoholiker, der auf seinem Fahrrad gegen innere und äußere Elemente kämpfte ... Und Garibaldi, der alte Mechaniker, der mit gütigen Frauenarztfingern die Zündkerzen der Ente abtastete.
    Gewiss waren das lauter interessante Bilder und Sequenzen. Und Julia wollte Marco die Freude an der Kamera nicht verderben. Aber allmählich hatte sie das Gefühl, dass er zu viel durch seine Objektive schaute. Und dass er darüber die Geschichte aus den Augen verlor, um die es eigentlich ging.
    Sie musste eine Möglichkeit finden, Marcos Fixierung auf die Kamera wenigstens ein wenig zu lockern. Es ging darum, ihn – bildlich gesprochen – behutsam an der Hand zu nehmen und in die Geschichte von Molly und Mortimer zurückzuführen. Eines Abends endlich, nachdem die erste Woche ihres zweiten Aufenthalts in San Vito schon fast vergangen war, ergab sich die Gelegenheit dazu. Sie waren Pizza essen gewesen, danach gingen sie noch ein paar Schritte an der Stadtmauer spazieren.
    Warum steigen wir nicht einfach dort wieder in die Geschichte ein, wo wir schon gewesen sind?, fragte sie. Und dann brachte sie die Sprache auf die Szene, die ihr im Zug nach Verona eingefallen war. Taktisch klug, denn das war eine nächtliche Szene. Im Zusammenhang mit dieser Szene ließ sich mit der Kamera nichts anfangen.
4
    Außen. Nacht. Mortimer und Molly in den Feldern
. Geduckt sind sie über die Mauerkrone gelaufen, erinnerst du dich? Eine Eisenleiter sind sie hinuntergeklettert, und die Via Verdura haben sie überquert. Wieder geduckt und gewärtig, dass ihre Geschichte jeden Moment zu Ende sein könnte.
    Aber sie haben Glück, der deutsche Soldat, der keine zweihundert Meter entfernt Wache hält, hat sie nicht bemerkt ... Weißt du noch? Der mit dem Kindergesicht unter dem Stahlhelm ... Oder, kann sein, er
wollte
sie nicht bemerken ... Denn vielleicht, ja bestimmt ist es für ihn besser, wenn er die scheiß Wache, die er in dieser Nacht schieben muss, hinter sich bringt, ohne in einen Schusswechsel verwickelt zu werden.
    Wenn er diese Nacht übersteht, überlebt, wäre das wieder ein kleiner Schritt auf seinem Weg nach Hause ... Er hat noch viele solcher Schritte vor sich, aber vielleicht hat auch er Glück ... Wenn er auch bei der Verteidigung der Gotenlinie oben im Apennin, die ihm und seinen Kameraden noch bevorsteht, nicht ins vom Sommer ausgetrocknete Gras beißt ... Wer weiß, vielleicht kommt er dann halbwegs heil zurück ins zerbombte Deutschland, kann sich von seinen Eltern, falls sie nicht irgendwo unter den Trümmern liegen, in die Arme schließen lassen und irgendwann später, in einem Frieden, den man sich jetzt noch gar nicht recht vorzustellen vermag, sein Abitur nachholen.
    Mortimer und Molly sind jedenfalls heil über der Straße. Und schlagen sich in die damals, im Jahr 1944, noch gleich dort drüben beginnenden Felder. Und es ist Anfang Juni, das Korn steht hoch. Sonst hat man es um diese Zeit meist schon geschnitten, aber heuer ist niemand da, der es erntet.
    Ganz San Vito, heißt es, war damals in der Macchia. Ein Begriff, mit dem man einfach die Gegend meint,
fuori del paese
, außerhalb des Ortes, eine nicht näher bestimmte Entfernung. Und da wollten nun auch Molly und Mortimer hin, wohin konkret, das würde sich noch finden. Und es war eine schöne, laue Nacht, so schön und lau, wie die Nächte Anfang Juni in dieser Gegend für gewöhnlich sind, ungefähr so, wie sie Marco und Julia nun, auf den Spuren von Mortimer und Molly, erlebten.
    Fast vierzig Jahre später. Ohne Krieg.
Fortunati noi
, sagte Marco, wir Glücklichen, und das war ja die Wahrheit. Sie
waren
glücklich, Julia und er, ihre ganze Generation war glücklich. Zumindest die in ihrer Weltecke, in diesem Teil Europas, in dem zu ihrer Zeit ungewöhnlich lang Friede herrschte. Ungewöhnlich jedenfalls im langjährigen

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