Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
Vom Netzwerk:
gewesen.
    Verantwortung, Mortimer! Anstand! Und Dankbarkeit. Schließlich hatte sie sich für ihn aufgespart. Übrigens liebte sie ihn. Für sie stand das fest. Das hatte sie ihm auch in einer Reihe von Briefen geschrieben, aber die hatte er im Chaos des Krieges nie bekommen.
    So wurden Mortimer und Hazel noch 1945 getraut. Vielleicht zu Thanksgiving, das wäre ein schönes Datum.
    Was meinst du?, sagte Julia. Sind wir weit entfernt von der Realität?
    Nein, sagte Marco. Das kann ich mir sehr gut vorstellen.
23
    Allerdings sei das nicht ganz das, was man sich unter
seine Angelegenheiten regeln
vorstellt.
    Marco zuckte die Achseln. Wir müssen ihm ein bisschen Zeit geben.
    Ein bisschen Zeit, sagte Julia. Wie viel ist unter diesen Umständen ein bisschen Zeit? Drei Jahre? Fünf Jahre? Sieben Jahre? Und was wird sich in diesem bisschen Zeit ändern?
    Mortimer ist verheiratet. Dann kommen wahrscheinlich Kinder. Sagen wir zwei.
A boy and a girl
, ganz wie es sich gehört. Und die Zeit vergeht. Und vielleicht denkt er ja tatsächlich daran, zu Molly zurückzukehren. Aber erst muss er abwarten, bis die Kinder etwas größer sind.
    Und auch dann wird es nicht leicht sein, das seiner Frau beizubringen. Seiner Frau Hazel, die er vielleicht nicht leidenschaftlich liebt, aber der er sicher nicht gern wehtut. Also wird er das Problem vor sich herschieben und auf irgendeine Kompromisslösung hoffen. Kommt Zeit, kommt Rat. Aber wie viel Zeit hat Molly?
    Wie viel Zeit, fragte Julia,
bleibt
ihr denn ... Um noch als Partnerin für Mortimer in Frage zu kommen ... In der Rolle, die sie da draußen in der Zweisamkeit mit ihm gespielt hat ... Nämlich als Geliebte, nämlich als Frau, die ihn den Altersunterschied vergessen lässt?
    Ja, da draußen, in der Idylle, mag sie sich jünger gefühlt haben ... Aber dann, wieder ins Mauerhaus zurückgekehrt, und zwar ohne ihn, wie wird sie sich da fühlen? ... Vorerst bleibt ihr die Hoffnung, natürlich, vielleicht kommt er bald, vielleicht kommt er noch rechtzeitig ... Doch nach und nach wird das Gesicht der älteren Frau, das sie schon früher manchmal im Spiegel gesehen hat, zurückkehren und bleiben.
24
    Sie besuchten Miss Mollys Grab auf dem kleinen Friedhof unterhalb von San Vito Alto. Auf dem Grabstein stand Mollys Name, sonst nichts. Kein Geburtsdatum und kein Sterbedatum. Es gab auch kein Foto wie auf einigen der benachbarten Gräber.
    Schade, sagte Julia, ich hätte gern gewusst, wie sie ausgesehen hat.
    Sie steckte ein paar Blumen, die sie gepflückt hatte, in die Plastikvase neben dem Grab.
    Der Tod ist eine Gemeinheit – irgendwo hatte sie das gelesen. Aber die Zeit, dachte sie, die Zeit ist auch eine Gemeinheit.
25
    So empfand sie das damals, so jung sie noch war.
    Sechsundzwanzig. Oder schon siebenundzwanzig? War das noch in ihrem zweiten oder schon in ihrem dritten Jahr in San Vito?
    Wie die Jahre verflogen – es war unglaublich.
    Namentlich die Jahre, in denen sie nach San Vito kamen.
    Unser erstes, unser zweites, unser drittes Jahr in San Vito und so fort. So zählten sie, aber in Wahrheit waren das ja immer nur ein paar Wochen. Ein paar Wochen, auf die sie den ganzen Rest des Jahres warteten. Doch
nach
San Vito war auch schon wieder
vor
San Vito, und das war eine schöne Perspektive.

Fünf
1
    All diese Jahre ... Im Rückblick darauf schrumpften die Zeiten, in denen sie nicht in San Vito gewesen waren, zu bloßen Zwischenzeiten. Zeiten, aus denen sich auch nur verhältnismäßig wenige Bilder abrufen ließen. Sie erinnerten sich ihrer eher begrifflich: Das war das Jahr, in dem Marco nicht mehr im Spital in Alessandria tätig war, sondern in Parma ... Und das war das Jahr, in dem Julia endlich doch an ihrer Dissertation zu schreiben begann.
    Aus den Wochen und Monaten in San Vito hingegen gab es eine Vielzahl von Bildern, die immer wieder in ihrer Erinnerung auftauchten. Etwa das vom Fronleichnamsfest, an dem die Straßenzüge, durch die sich der Umzug bewegte, über und über mit gelben Blüten bedeckt waren. Der Pfarrer, ein im Alltag eher kleiner, unscheinbar gekleideter Mensch, wirkte viel größer im feierlichen Ornat, in den erhobenen Händen die golden glänzende Monstranz. Und alles bewegte sich in einem eigenartig verzögerten, leicht schwankenden Schritt, den die vorausmarschierende, zu diesem Anlass in einer besonders schrägen, sozusagen zartbitteren Tonlage spielende
banda
vorgab.
    In einem ganz anderen Farbton die Erinnerung an den Lautsprecherwagen, der um den

Weitere Kostenlose Bücher