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Mortimer & Miss Molly

Mortimer & Miss Molly

Titel: Mortimer & Miss Molly Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heinisch
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sagte manches recht anders oder lieber gar nicht. Aber jetzt kamen ihr solche Worte unwillkürlich über die Lippen.
    Eigenartig: Sie war um rund zwanzig Jahre jünger als damals Molly. Und Marco war um rund zehn Jahre älter als der junge Mortimer. Rein äußerlich ähnelten sie den Figuren, die sie da verkörperten, also kaum. Aber manchmal kippten sie buchstäblich in diese Rollen.
    In den Nächten geschah das noch leichter als untertags. In den Stunden nach Mitternacht kroch eine feuchte Kälte vom Fluss herauf. Und Stimmen von unbekannten Tieren klangen vom anderen Ufer herüber.
Falls
es sich um die Stimmen von Tieren handelte.
    Einmal, im Halbschlaf, glaubte Julia, Schüsse zu hören. Dann wachte sie auf, und es waren wirklich Schüsse. Als sie Marco weckte, sprach sie ihn im ersten Moment mit Mortimer an. Was ist das, Mortimer? Schlaf weiter, sagte Marco, das sind Wilddiebe.
    Und dann, eines Morgens, stiegen sie auf die Hügelkuppe, auf die Molly und Mortimer jeden Tag gestiegen waren, um zu sehen, ob San Vito noch stand. Von dort hatten sie nicht den ganzen Ort gesehen, aber seine höher gelegenen Teile. Vor allem den Turm im oberen Teil des Parks. La Torre del Cassero, diesen Turm, den die Deutschen dann vor ihrem Abzug aus dem Ort noch sprengen würden.
    Und nun versetzten sich Marco und Julia seit Tagen in Szenen, die noch vor der Sprengung dieses Turms lagen. Und stiegen also auf den Hügel und schauten durch die Augen von Mortimer und Molly. Und da sahen sie den Turm – er ragte hoch über die Wipfel der Steineichen hinaus.
    Hast du ihn auch gesehen?, fragten sie einander, als sie wieder unten waren.
    Ja, ich habe ihn auch gesehen.
19
    Doch dann kam der Tag, an dem der Turm nicht mehr stand. Mortimer und Molly müssen die Detonation gehört haben. Die Detonation und den Krach, mit dem die Trümmer auf die Erde prallten. Eine Erschütterung, die man im Umkreis von vielen Kilometern spürte.
    Und dann hörten sie natürlich das Herannahen der Flugzeuge. Und bald würden sie das Rasseln der Panzerketten hören. Und dann würde klar sein: Nun sind die Alliierten in San Vito. Und Mortimer würde sagen: Jetzt müssen wir zurück.
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    Warum?, fragte Molly.
    Wir können nicht ewig hierbleiben, sagte Mortimer.
    Und warum nicht?, fragte Molly.
    Früher oder später würden sie uns finden.
    Wer würde uns finden?
    Ich weiß nicht, sagte er. Die Leute ... Und womöglich meine
eigenen
Leute.
    Bleib bei mir, sagte sie.
    Aber das geht nicht, sagte er, der Krieg ...
    Was geht uns der Krieg an, sagte sie.
    Ich bin Soldat, sagte er.
    Du siehst nicht mehr so aus, sagte sie.
    Ich werde bald wieder so aussehen, sagte er.
    Lass mich nicht allein, sagte sie, aber er wollte kein Deserteur sein.
    Versteh mich doch, sagte er, das kann ich nicht. Es ist auch verrückt. Wir können nicht auf die Dauer Tarzan und Jane spielen.
    Geh nicht!, sagte sie.
    Ich komme ja wieder, sagte er. Wenn der Krieg vorbei ist und ich drüben meine Angelegenheiten geregelt habe ...
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    Und das war nicht einmal gelogen. Er kam wirklich wieder
.
    Allerdings kam er etwas später, als er vielleicht gedacht hatte.
    Und zweifellos kam er später, als sie gehofft hatte.
    Er kam nicht ganz zu spät, doch zu spät kam er trotzdem.
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    Erstens dauerte ja der Krieg noch seine Zeit. Der Tag, an dem er sich beim US-Kommando in San Vito zurückmeldete, ein abenteuerlich aussehender Mensch, langes Haar, dichter Bart, doch nichtsdestoweniger salutierend, Name und Dienstgrad laut und deutlich artikulierend, muss ein Tag Ende Juni 1944 gewesen sein. In Oberitalien kapitulierte die Wehrmacht erst im April 1945. Und in Deutschland ging der Horror bis in den Mai weiter.
    Mortimer kam also frühestens im Sommer 45 in die Staaten zurück. Nach Northfield, Minnesota, wo nicht nur seine
family
, Vater, Mutter, noch nicht kriegsdienstfähige Brüder und kleine Schwestern, auf ihn warteten, sondern auch die treue Hazel. Sie hatte viel an ihn gedacht und für ihn gebetet. Und jetzt ward er ihr zurückgegeben, mit Gottes Hilfe von Kopf bis Fuß unversehrt, womöglich sogar mit irgendwelchen Medaillen oder Orden dekoriert, und sie konnte auf ihn stolz sein.
    Stolz sein auf diesen Bräutigam – denn das war er doch, oder? Schließlich hatte sie sich ihm hingegeben, oder er hatte sie genommen, das ließ sich so oder so interpretieren. Und das war Gott sei Dank ohne Folgen geblieben. Aber es bedeutete doch etwas, er konnte jetzt nicht einfach so tun, als wäre nichts zwischen ihnen

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