Mortlock

Finger über die goldene Schrift auf dem Einband:
Tagebuch von Sebastian Mortlock
.
    »Überall steht Mortlocks Name drauf«, sagte Josie mit schwacher Stimme, während sie die Papiere und Briefe durchsah. »Die ganzen Sachen müssen ihm gehört haben …«
    »Offenbar hat dein Vormund sie schon seit der Zeit, als Mortlock verschwunden ist. Aber aus irgendeinem Grund hat er sie vor ein paar Wochen hierhergebracht«, sagte Scrabsnitch. »Er muss sie für wichtig gehalten haben.«
    Josie setzte sich an den Tisch und schlug das Tagebuch auf. Bevor sie anfangen konnte zu lesen, rollte Alfie eine Karte aus und bedeckte damit die aufgeschlagenen Seiten.
    »Muss das jetzt sein?«, murrte sie und schob energisch die Karte beiseite.
    »Aber guck doch mal, da steht A-BES-SI-NI-EN … Abessinien.« Alfies Augen weiteten sich. »Und sieh mal hier.«
    Josie beugte sich über die handgezeichnete Karte, auf der lauter fremdartige Namen, hellblaue Punkte, die wohl Wasserlöcher darstellen sollten, und verwirrende Linien und Zahlen eingetragen waren. Aber genau in der Mitte lageine grüne Fläche, und darin befand sich ein roter Punkt, neben dem jemand in zittriger Schrift das Wort
Amarant
geschrieben hatte.
    »Dann haben sie sie also tatsächlich gefunden«, flüsterte Josie. Es musste so sein – welchen Sinn sollte diese Karte sonst haben?
    »Haben Sie schon mal von dieser Amarant gehört?«, fragte Alfie, setzte sich auf die Kante eines wackeligen Tisches und starrte Scrabsnitch unverwandt an.
    »Es gibt eine Pflanze, die so heißt. Sie sieht aus wie eine ganz normale Blume, aber die alten Griechen glaubten, dass sie ewig blüht.« Evenyule Scrabsnitch fuhr sich mit seinen knochigen Fingern durch den grauen Haarwust. »Sie ordneten sie Artemis zu, der Göttin der Jagd. Oder Diana, wie die Römer sie nannten.«
    »Artemis – das ist der Bühnenname, den Cardamom mir gegeben hat«, sagte Josie.
    »Vielleicht beschäftigte ihn die Amarant, junge Dame. Und angesichts deiner Treffsicherheit im Umgang mit Wurfgeschossen aller Art erscheint mir der Vergleich mit der Göttin der Jagd sehr naheliegend. Die Verbindung hat Cardamom ganz sicher gekannt. Auch Milton erwähnt die Amarant in seinem Versepos
Das verlorene Paradies
– wahrlich eine seltsame und gefährliche Blume.«
    Josie lauschte gebannt. »Erzählen Sie mir mehr darüber.«
    »Die Blume des Lebens.« Scrabsnitch senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Die erste Blume im Garten Eden, von Gott mit der Fähigkeit gesegnet, demjenigen, der sie in Händen hält, die Macht über Leben und Tod zu geben. Viele Männer sind schon auf der Suche nach ihr gestorben.«
    »Und durch ihre Zauberkraft«, seufzte Josie und wandte sich wieder dem Tagebuch zu.
    Der Entschluss ist gefallen. Am 20. Juli 1819 brechen wir auf nach Abessinien. Corvis finanziert großzügigerweise die Expedition. Chrimes beschwert sich schon über die Hitze, bevor wir überhaupt aufgebrochen sind! Was für eine Vorstellung: die Blume des Lebens zu finden. Die Macht über Leben und Tod zu haben!
    Was für ein Glück, dass ich so nette Reisegefährten habe. Corvis hat einen ziemlich schwarzen Humor, aber sein Reichtum und seine adlige Herkunft hindern ihn nicht daran, die Gesellschaft ganz gewöhnlicher Männer zu genießen. Und Chrimes ist mir schon seit Jahren ein treuer Freund …
    Josie hielt inne. Es klang, als wären sie gute Freunde gewesen. Was war schiefgegangen? Ihr Blick fiel auf ein großformatigeres Blatt Papier. Sie zog es aus dem Stapel. Es war ein Plakat mit der Aufschrift »Lorenzos Unglaublicher Zirkus«. Auf der einen Seite war ein großer Mann mit Zylinder abgebildet, der die Liste der Zirkusnummern einrahmte, auf der anderen ein Löwe mit erhobener Pranke.
    »
Madame Lilly
«, las sie vor, »
sagt den Wagemutigen die Zukunft voraus. Die Fliegenden Gambinis, atemberaubende Trapezkünstler. Ulrico der Clown. Der Große Cardamom, Magier und Zauberkünstler
…
«
    »
Und Professor Necros«
, fuhr Alfie fort, »
Mittler zur Welt der Toten und Geisterbeschwörer
…
«
    »Onkel hat mir nie erzählt, dass er mal in einem Zirkus gearbeitet hat«, sagte Josie und runzelte die Stirn. Plötzlich wurde ihr ein verborgener Teil seines Lebens enthüllt. Sieverstand nicht, warum er das für sich behalten hatte. »Vielleicht hat er Mutter ja dort kennengelernt.«
    »Ist es Madame Lilly?«, fragte Alfie. Er sagte es beiläufig, aber Josie meinte, eine gewisse Spannung in seiner Stimme zu hören. Er berührte das