Mortlock
als eine Axt an ihr vorbeiwirbelte und scheppernd auf die Straße fiel.
Das Klingeln der Glocke verhallte in der Ferne, während das Pferd weitergaloppierte. Josie hatte jeglichen Orientierungssinn verloren, aber der Gestank der Abwasserkanäle sagte ihr, dass der Fluss nicht mehr weit sein konnte. Verschwommene Gesichter flogen vorbei. Sie zog an den Zügeln, versuchte alles Erdenkliche, um das Pferd wieder unter Kontrolle zu bekommen. Etwas knallte gegen das linke Rad, und der Wagen begann noch wilder und ungleichmäßiger zu schaukeln.
Plötzlich durchzuckte ein stechender Schmerz Josies Kopf, und sie wäre um ein Haar vom Kutschbock gefallen. Vorsichtig berührte sie ihre Stirn. Sie fühlte sich warm und feucht an, und als sie die Hand wegnahm, war sie voller Blut. Sie wandte sich um und sah ein Ladenschild, das heftig schwankte.
Josie wurde schummrig vor den Augen. Es gab einen Ruck, und plötzlich fühlte sie sich schwerelos. Aus irgendeinem Grund war die Kutsche stehen geblieben, und Josie flog durch die Luft. Sie hörte, wie die Kutsche auf die Straße krachte. Hartes Kopfsteinpflaster prallte gegen ihren Arm und ihre Schulter.
Dann herrschte Stille.
Ein Rad drehte sich leise quietschend in der Luft. Irgendwo zu ihrer Linken hörte sie Alfie stöhnen. Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine gaben nach, und sie sank wieder zu Boden. Das Blut rauschte ihr in den Ohren.
Ein kalter Wind strich über ihr Gesicht. Die schwarzen Umrisse zahlloser Vögel glitten über den dämmrigen Himmel, und direkt über ihr schwebte Tante Mags triumphierendes Gesicht.
Gimlet war tot, dessen war sie sicher.
Und jetzt bin ich dran
, dachte sie. Es war vorbei.
ZWEITER TEIL
Rookery Heights
Es kräht der Hahn, der Morgen graut,
Der hungrige Wurm wird grimm.
Vermisst man uns dort, wo wir flohen,
Trifft uns die Strafe schlimm.
Die Frau von Usher’s Well
(The Wife of Usher’s Well)
,
altes Volkslied
15. KAPITEL
Das Licht über der Marsch
Warme, weiche Decken hüllten Josie ein. Sie reckte und räkelte sich, ohne die Augen zu öffnen. Einen Moment lang dachte sie, sie läge auf Gimlets Sofa, doch der pochende Schmerz in ihrer Schläfe holte sie in die Wirklichkeit zurück. Jetzt spürte sie auch die dumpfe Erschöpfung in ihrem Körper, die sie an die Schrecken des vergangenen Tages erinnerte. Gimlets blutendes Gesicht, sein Schrei, sie solle fliehen, dann die rasende Fahrt mit der Kutsche. Danach erinnerte sie sich nur noch vage daran, dass etwas sie in die Luft gehoben hatte, höher und höher, bis ihr übel geworden war. Scharfe Krallen hatten sich in ihre Schultern gebohrt und sie in den dunkler werdenden Himmel hinaufgetragen.
Josie öffnete die Augen. Sie lag in einem riesigen Himmelbett, alt und mit geschnitzten Mustern aus Weinreben und Vögeln. Es nahm fast das ganze Zimmer ein und ließ nur wenig Platz für die Kommode, den Stuhl und den Spiegel zu ihrer Linken, die im gleichen Stil gehalten waren wie das Bett – schwer, dunkel und über und über mit Schnitzereien verziert. Auf der rechten Seite schloss sich beinahe lückenlos ein großes Erkerfenster an, durch das trübes Winterlicht hereinfiel. Draußen erstreckte sich flaches, ausgewaschenes Marschland. Hinter dem Fußende des Bettes stand ein kleinerTisch mit zwei Stühlen am Kamin, in dem ein Feuer knisterte. Vorsichtig betastete Josie ihren Kopf – er war mit einem dicken Verband umwickelt.
Auf einem der beiden Stühle saß ein Mädchen, das ein paar Jahre älter als Josie war. Mit dem einfachen schwarzen Kleid und der weißen Schürze, das rote Haar zu einem strengen Knoten hochgesteckt, sah sie aus wie ein Haus- oder Dienstmädchen. Ihr schmales, eckiges Gesicht war blass und voller Sommersprossen, aber sie hatte sanfte blaue Augen, und als sie Josies Blick bemerkte, lächelte sie scheu.
»Wo bin ich?«, fragte Josie und setzte sich auf. Als die Decken herabglitten, spürte sie, wie kalt es in dem Zimmer war. Sie blickte an sich hinunter und sah, dass sie ein dickes Nachthemd trug. »Welcher Tag ist heute? Wo sind meine Kleider? Und wo ist Alfie?«
»Beruhige dich«, sagte das Mädchen. »Ich heiße Arabella. Du hast einen schlimmen Unfall gehabt. Zum Glück haben sie dich da draußen auf der Straße gefunden, sonst wärst du bestimmt erfroren …«
Panik überkam Josie. »Ich muss zu Alfie!« Sie schlug die Decken zurück und schwang die Beine aus dem Bett, doch sofort drehte sich alles um sie, und sie sank mit einem Stöhnen zurück
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